Nun ist das schon eine Woche her. Premiere in Bochum, Jahrhunderthalle, Lachenmanns “Mädchen”, großer Rummel, kein normaler Mensch zu sehen, soll heißen: Alle rund 1200 Besucher sehen aus, als seien sie im Musikbetrieb aktiv als Intendanten, Dramaturgen, Operndirektoren, Komponisten, Verlagsleute, Agenten, Musen, Journalisten oder Eminenzen (Zehelein ist natürlich auch da!), es ist ja auch schön, dass sie alle da sind, aber es hat was von geschlossener Gesellschaft. Die einfach so wirklich Interessierten, für die die Kunst ja eigentlich gemacht ist, kommen hoffentlich in die weiteren Vorstellungen. Woran man die erkennt? Darüber müsste man sich mit (zweifellos ebenfalls anwesenden) Kostümbildnern unterhalten, die die Dresscodes aufschlüsseln können. Hier wird jedenfalls, auch von Damen, auffällig viel Dunkel getragen, und viel Brillendesign. Und zur Premierenfeier steigen alle in den ersten Stock, wo sich ein noch nicht eröffnetes Büffett befindet, Kellner warten hinter silbernen Trogdeckeln, großes Gedränge und Lärmen, kennt man wen, besteht Gefahr, dass man Premiereneindrücke vergleichen und abgleichen muss. Die Profis sind ja in einem irren Tempo fertig mit dem Urteil. Die meisten. Wir beide sind auch Profis, aber langsamer, ich muss das alles mal in Ruhe nachwirken lassen, und sie hat keine Lust auf small talks. Wir gehen wieder runter und raus. Wir haben nach zwei Stunden in Robert Wilsons quadratischem Kessel Sehnsucht nach Freiheit, und die braucht auch Lachenmanns Musik. Die ist nicht vorbei. Ein solches Maß an komprimierter Einfühlung, Energie, Vielfalt, kluger Verzweiflung nimmt einen mit, die Feinheiten sind zu fein, als dass sie sich von Filtern abhalten ließen, tief zu dringen.
Das merke ich aber erst, als wir das passende Refugium erreicht haben, und wir erreichen es mit Hilfe eines komplett unkompetenten Taxifahrers. Ob er wisse, wo wir um diese Zeit, 23 Uhr, noch was zu essen kriegen könnten in Bochum. Nein. “Okay, dann fahren Sie uns zur Beckstraße.” Ich hatte da nachmittags ein paar Lokale nebeneinander gesehen. Er schaltet das Navi an, fährt los, ignoriert bei erster Gelegenheit die Hinweise des Geräts und biegt ab mit dem Hinweis, “Navi immer verrückt, kamman nix mache”. “Wo fahren Sie denn jetzt hin?” “Brückstraße.” “Nein, wir wollen zur Beckstraße.” Er braust weiter. “Beckstraße, verstehen Sie?” Er wühlt einen Stadtplan raus. “Brückstraße?” “Nein, Beckstraße.” Und tonlos füge ich an: “Darfdochnichwahrsein…” An der nächsten roten Ampel ruft er einen Kollegen an, der soll ihn lotsen. In dem Moment ruft sie von hinten: “Alles gut, wir steigen hier aus!” Und so geschieht es. Neun Euro, wahnsinnigerweise runde ich um einen Euro auf für das Geiere, vermutlich vor Erleichterung. “Tolle Idee”, sage ich zu ihr, “warum gerade hier?” Sie hat irgendeine U-Bahn-Station wiedererkannt. Tja, und wo und kriegen wir hier noch was?
Da ist ein Schild: “Una mas”, “noch einen”, das muss ein Spanier sein, schaun wir mal. Ich sondiere: Butzenscheiben, Reingucken unmöglich, ob das was ist? Sie spricht unterdessen an der Straßenecke ein Pärchen an. Die waren gerade in eben dem Lokal: Verschärft zu empfehlen! Die Tür ist offen, der Saal ist herrlich. Hoch, aber gemütlich, gelbes Licht, viel Holz, lange Theke, hinter der steht ein Spanier um die Vierzig wie von Picasso gemalt auf einem seiner Artistenbilder, drahtig: “Wenn Sie sich schnell entscheiden, können Sie alles haben.” Außer einem Aschenbecher natürlich, eine Schande ist das… Und dann werden Tapas gebracht und Wein, die Fleischbällchen sind noch besser als in Vechta, die Tortilla ist ein Traum, und wir können endlich in Ruhe reden, ohne Musikbetrieb um uns herum, in einer Welt, in der die Leute von Lachenmann noch nie etwas gehört haben, auch nie etwas hören werden, die mir aber den Kopf befreit, die Musik noch mal zu hören, oder vielmehr: Zu hören, dass ich sie immer noch höre. Das ist schon alles gut so. Natürlich, da bin ich dogmatisch: Kunst soll nicht affirmativ sein. Aber danach so nett am Tisch zu sitzen, so temporär gefestigt, das muss unbedingt sein. Diese Art von Affirmation genießt man in jener Tiefe, die vorher aufgerissen wurde. Una mas!