Beethoven, bist du das?

Das berühmteste Streichquartett der Welt nimmt nach vierzig Jahren Abschied vom Konzertpodium. Eine Begegnung mit dem Alban Berg Quartett

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Weißt was? Halt die Gosch’n, und spiel im Takt!« So hat man sich das eher nicht vorgestellt, wenn das berühmteste Streichquartett der Welt an Nuancen feilt. Aber der Bratscher durfte das. Er hat ja auch noch ganz andere Sachen gesagt. Zum Beispiel, dass man beim Traurigsein in der Musik nie schleppen darf, nicht langsam werden. »Sonst wird’s gemütlich.« Ein kluger, witziger Mensch. Wenn man ihm zusieht in einer Filmaufnahme, in der das Alban Berg Quartett Schuberts Der Tod und das Mädchen spielt, fällt auf, wie oft er zu den andern schaut. Wie sensibel er mit dem Bogen auf ihre Äußerungen reagiert. Ein Gespräch. Seit eineinhalb Jahren sprechen sie ohne ihn, Thomas Kakuska starb im Juli 2005. Seine Schülerin ersetzt den Bratscher, aber natürlich ersetzt sie ihn nicht. »Den Tommy hätten Sie kennenlernen müssen«, sagt Günter Pichler und lächelt und ist traurig. Tommy, das war der vierte Beatle der Kammermusik.

Der erste war Pichler selbst. Der Geiger hat vor 36 Jahren das Alban Berg Quartett gegründet, aus dem das wohl erfolgreichste Streichquartett aller Zeiten wurde. Jetzt hat es seinen Abschied vom Konzertpodium zum Ende der nächsten Spielzeit angekündigt. »Das ist eigentlich ganz schön«, meint der 67-Jährige, so mache man Schluss auf hohem Niveau, während die Streichquartettszene in voller Blüte steht. In Europa gebe es »mehr Konzerte als je zuvor«, sagt er. Und Deutschland biete volle Säle selbst in der Provinz. »Uelzen! Erstaunlich!« Zu den Großen aus den Siebzigern und Achtzigern, neben dem »ABQ« vor allem Arditti, Kronos und Emerson, sind in den letzten fünfzehn Jahren exzellente neue Quartette gekommen: Artemis, Belcea, Carmina, Hagen, Leipziger Streichquartett, Mandelring, Mosaïques, Petersen, Rasumowsky, Rosamunde…

Für den Bratscher schrieb Rihm ein Requiem

Viele von ihnen haben beim Alban Berg Quartett gelernt und studiert. Nicht dass die vier Österreicher die Verbindung von Analyse und Ausdruck erfunden hätten, von Präzision und Emotion. Aber bei ihnen entstanden ein Ton, eine Stimme, eine Wärme der Intelligenz, die das Genre in ein neues Licht setzte, die das Intime, unspektakulär Elitäre der vier Streicherstimmen auch beim großen Publikum als Musiksprache etablierte und viele Komponisten anregte. Etwa Wolfgang Rihm, der für den Bratscher ein Requiem schrieb, ein Grave. Damit waren sie kürzlich auf Tournee. Anfangs schweigt die Viola. Isabel Charisius hört zu, wie ihre drei Kollegen die Leere umspielen. Rihms Gedenkmusik ist unsicher im besten Sinne: hellhörig, schwebend. Da entwickelt sich, flüchtig tröstend, Vorhaltsharmonik und wird wieder verlassen hin zu jener großen Freiheit des Ausprobierens, die es so nur bei diesem Komponisten gibt. Zwischen expressiven Passagen, Schraffuren, Pfeiftönen, Akzenten und Nebeln und auch mal einem Durakkord bilden sich da keine Regeln, aber Zusammenhänge, tief gesponnen. Ein Tonfall der Struktur entsteht. Immer wieder umgeben in großer Ruhe die drei Stimmen jene eine, ohne dass man sagen könnte: Da ist das Zentrum. Als formale Eindeutigkeit – neben dem Schweigen der Viola, die später ewigkeitlich lange Töne spielt – erlaubt sich Wolfgang Rihm nur, mit dem Schluss den clusterartigen Anfang aufzugreifen. Welche Arbeit darin steckt, diese Musik so einleuchtend und offen wirken zu lassen, daran denkt man nicht, wenn das Alban Berg Quartett spielt. Alles lebt.

»Was macht man da?«, fragt sich der Primarius, wenn er zum ersten Mal eine neue Partitur wie die von Rihm sieht, vierfaches Forte und vierfaches Piano. »Wie leise kann man das spielen, was meint er damit wirklich?« Erst »nach einer gewissen Zeit des Einlesens« verstehe man das. Darin haben die Bergs Übung. Von Anfang an spielten sie Altes und Neues nebeneinander. Und zufrieden waren bisher noch alle Komponisten, die ihre Musik von diesem Ensemble hörten. Luciano Berio war »grateful forever«, Witold Lutoslawsky hielt die »ABQ«-Interpretation seines bahnbrechenden Quartetts von 1964 für unüberbietbar, György Kurtág sagte nach den Mikroludien: »Ihr seid die Einzigen, die das spielen können.« Dabei hatte er gegen seine Gewohnheit nicht in die Proben eingreifen dürfen. Komponisten werden hier höchstens mal zur Generalprobe zugelassen.

Der allererste Moderne in ihrem Repertoire konnte sie ohnehin nicht hören. Namenspatron Alban Berg starb 1935. Seine Witwe Helene wollte die vier jungen Musiker selbst hören, ehe sie ihren Segen gab. »Wir mussten die Lyrische Suite in dem Zimmer spielen, in dem Berg sie komponiert hat.« In diesem Stück hat Berg seine verzweifelte Liebe zu Hanna Fuchs, der verheirateten Schwester Franz Werfels, in Töne gebracht. Gespickt mit Symbolmotiven und geheimer Programmatik, die in einem Tristan- Zitat einmal ganz offen ausbricht, ist das eins der glühendsten Liebesbekenntnisse der Geschichte in der Literatur für Streichquartett. »Das war alles so aufregend für uns«, sagt Pichler. Sie spielten vor versammelter Wiener Musikprominenz. »Helene war sehr wach und interessiert« – und begeistert.

Zu Anfang der siebziger Jahre war es sehr ungewöhnlich, was die Musiker vorhatten. Die zwei Quartettformationen, die damals in Wien Konzerte gaben, bestanden aus Orchestermusikern, und so etwas wie die Zweite Wiener Schule rund um Schönberg kam denen nicht aufs Pult. Pichler konnte sein Konzept eines Vollzeitquartetts mit Musik aus dem 20. Jahrhundert überhaupt nur riskieren, weil er schon einen Namen hatte. Herbert von Karajan höchstselbst hatte den Geiger aus Kufstein zum Konzertmeister der Wiener Philharmoniker ernannt, wo Pichler aber schon mit 23 Jahren wieder aufhörte. Sieben Jahre später gründete er das Quartett. Man riet ihm ab, es nach Alban Berg zu nennen, »aber gerade dieser Name hat uns enorm geholfen«. Er stand für Neues. Die Plattenfirmen begriffen das nicht gleich: Die Deutsche Grammophon bot den Newcomern an, alle Quartette des Beethoven-Zeitgenossen Cherubini aufzunehmen.

Pichler lehnte ab – für das prominente gelbe Label eine ganz neue Erfahrung. Auch das Ansinnen der Teldec, sämtliche Haydns einzuspielen, scheiterte. »Wir bauen gerade unser Repertoire auf«, erklärten die jungen Musiker hartnäckig und schlugen vor, eine Platte mit Haydn, gleichzeitig aber noch eine mit Alban Berg auf den Markt zu bringen »und zu sehen, was sich besser verkauft«. So geschah es, und beide Produktionen wurden große Erfolge. Seitdem entstanden rund 170 Einspielungen, wobei viele Werke zweimal auf Tonträger kamen wie Beethovens Streichquartette. Die wurden um 1980 im Studio aufgenommen und zehn Jahre später noch einmal als Livemitschnitte.

Das nötige »Tempogefühl« sei besser geworden, sagt Pichler, wenn man fragt, was sich verändert habe im Lauf der Jahre, gewachsen seien auch Sicherheit und Freiheit. »Je freier Sie sind, desto besser können Sie atmen und rüberbringen, was Sie sich gewünscht haben.« Allein übe er wenig, »im Grunde nur, um die psychische Sicherheit zu stärken«. Umso mehr wird geprobt: »90 Prozent kann man relativ rasch erreichen, der Rest dauert sehr lang…« Dabei kann man sich leicht auf die Nerven gehen. Wie lässt sich das vermeiden? Lange versuchten sie es mit Höflichkeit. Als der Bratscher Kakuska neu dazukam, 1981, irritierte ihn das. »Stellt Regeln auf«, forderte er, »ich fühl mich verunsichert!« Das taten sie. Regel Nummer eins: Jeder darf eine Stelle dreimal spielen, wenn sie dann nicht klappt, muss in »Einzelhaft« weitergeübt werden. Regel Nummer zwei: Wenn einer den Schluss der Diskussion fordert, wird nicht mehr diskutiert – »Halt die Gosch’n…« Und eine weitere Regel hat Cellist Valentin Erben so formuliert: »Bitte kritisiert mich erst, wenn ich’s kann!« Auf die Fehler, die man selbst wahrnimmt, müssen einen nicht auch noch andere stoßen. Und wenn unklar ist, wo es hakt, »muss das nicht gleich bearbeitet werden«, sagt Pichler. Da solle jeder erst mal rausfinden: »Liegt es an mir? Wer dominiert die Lautstärke? Wer mischt sich dazu? Selbst wenn zwei Geigen hundertprozentig sauber spielen – wenn sich’s nicht mischt, ist es nicht sauber.«

Die “Große Fuge” erwacht wie ein gefährliches Tier

Es ist spannend zu erleben, wie im Konzert die Spielweisen zweier so grundverschiedener Geiger wie Günter Pichler und Gerhard Schulz zusammenfinden. Pichler ist wendig, hellwach, er federt auf der Stuhlkante, von der er bei Akzenten auch mal hochspringt. Schulz, elf Jahre jünger, in sich ruhend, wacht unauffällig. Groß und vollbärtig, ähnelt er einem Bären, dessen Flinkheit verblüfft. Und über Valentin Erben, den Cellisten, erfährt man viel, als ihm am Anfang von Beethovens opus 130 die A-Saite reißt in der Hamburger Laeiszhalle. Man hört einen Knall zwischen den Tönen, aber das Allegro geht zwei, drei Takte weiter, ohne dass irgendein Erschrecken die Bewegungen auf dem Podium unterbräche. War da was? Dann beugt sich Erben vor, höflich und mit halbem Nicken, wie wenn er einer Tischgesellschaft bedeute, dass er eben kurz ans Telefon müsse. Und entfernt sich. Diese Mischung aus ruhiger Bestimmtheit und Bescheidenheit prägt auch sein Spiel. Selbst Erbens Soli sind nie Auftritte, sondern genaue Balancen zwischen Charakter und Abstraktion. Opus 130 wird mit neuer Cellosaite ein Ereignis. Die schnellen Sätze wirken gewitzt, zugleich scharf ausgeleuchtet, sodass ein gewisses Zähnefletschen einen wachsam hält – wie etwa bei den Betonungen in den Taktmitten des Presto .

Es gehört wohl zum Wienerischen des Ensembles, dass es solche Schärfen zugleich herauspräpariert und ein wenig verwischt, einen Hauch von rauem Drauflosspiel über die Akzente legt. In der Cavatine , zum beinahe mahlerschen Adagietto gedehnt, einem Satz, der Beethoven selbst zu Tränen rührte, nehmen sie den Höhepunkt um jene Spur zu früh, die eben nicht zu früh ist. Musik atmet nicht nach Lineal. Wie wird danach der unerbittlichste aller Sätze klingen, der je für Streichquartett geschrieben wurde und das Publikum der Uraufführung so verstörte, dass Beethoven einen anderen Finalsatz nachlieferte? Die Große Fuge – eine Folge von Einzelfugen – stößt in kontrapunktischer Sperrigkeit aus der Tonalität wie aus dem Charakter der Instrumente heraus und lässt nur einschubweise noch »Innigkeit« zu, wie Pichler das nennt. Igor Strawinsky sagte: »Das ist moderne Musik und wird es immer bleiben.«

Um sie zu verstehen, suchten die Bergs beizeiten einen großen Wiener Analytiker auf, den Dirigenten Hans Swarowski. Kurz vor seinem Tod spielten sie ihm das Werk vor und hätten seine Erläuterungen gern mitgeschnitten. Aber das verbat sich Swarowski. So wanderten nur Pichlers Notizen aus dem Gralsbezirk nach draußen, wo der Geiger versuchte, ein Spielkonzept aus der Analyse zu machen. »Unmöglich«, sagt er. Doch wenn man das Quartett auf dem Podium damit erlebt, merkt man, dass all die Ecken und Kanten, Sprünge und Akzente auch Umrisse von Gedanken sind. Und dass die Große Fuge lebt. Sie erwacht wie ein Tier, das nicht jeder beschwören darf (so ähnlich, wie die Hammerklaviersonate manche Pianisten einfach totbeißt), sie zeigt mittendrin eine Süße, die einen ergreifen kann, sie stellt sich den Musikern entgegen. Und die lassen nicht nach. Mitunter zerren sie an der Musik, als wollten sie wissen: Was ist drin? Wer? Ludwig, bist du das? Komm raus, wir helfen dir!

»Dem Beethoven«, sagt Pichler, »bin ich persönlich nähergekommen.« Die Briefe dieses Komponisten verrieten lange nicht so viel wie die von Mozart, »aber es ist eine Innigkeit in seiner Musik, die keiner kreieren kann, wenn er nicht selber zutiefst innig ist«. Beethoven sei »menschlich erfassbar«, mehr als Haydn und Mozart. Er habe es sich auch schwerer gemacht: »Er fühlt sich seinem Material verpflichtet. Das Material ist simpel, aber er verwendet es ständig anders.« Pichler liest viel, die Analysen von Charles Rosen, »die unglaublich wertvollen Bücher Harnoncourts«, er vergleicht Dutzende von Interpretationen und hat, wenn er davon erzählt, weder etwas Gelehrtes an sich, noch kehrt er den Künstler heraus. Ein Handwerker im Einsatz auf dem Olymp. »In der Kammermusik ist Ernsthaftigkeit nach wie vor ein wichtiger Faktor«, meint er mit einem grimmigen Seitenblick auf die schnell zurechtgeprobten, risikofreien Hochglanzprodukte gut bezahlter Orchester.

Richtig sauer wird er, wenn es um die Solistenausbildung geht, um Lehrer, die Hochbegabte für Wettbewerbe zurechtschleifen: »Möglichst neutral spielen und möglichst wenig Fehler machen!« Die Kunst des Streichquartetts erscheint da fast als Insel der Seligen, wo noch viel riskiert wird – vor vollen Sälen. Dazu hat das Alban Berg Quartett selbst viel beigetragen. Welche Wertschätzung das Ensemble auch unter Kollegen genießt, erlebte man im vorigen Herbst. Zum Gedenkkonzert für den Bratscher versammelte sich in Wien die Crème de la Crème. Abbado dirigierte. Rattle spielte Klavier. Quasthoff sang. Irvine Arditti, Primarius des anderen besten Quartetts der Welt, geigte im Orchester. Auch das Alban Berg Quartett spielte mit. Und kein einziges Streichquartett stand auf dem Programm.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien zuerst in der ZEIT am 31.März 2008. Die Zwischenzeilen wurden für diese Website hinzugefügt. Das Foto (Warner Classics, undatiert, wohl Mitte der 1990er) zeigt von links nach rechts Gerhard Schulz, Günther Pichler, Valentin Erben und Thomas Kakuska.