Auf in den fernsten Süden

Das schöne Fieber des Gesangs: Eine Begegnung mit Dietrich Fischer-Diskau, der am 28. Mai 80 Jahre alt wird

Zuerst bleibt er noch im Schatten und zieht, gemächlich schreitend, Kreise um den jungen Sänger, der vorn im Licht am Flügel steht mit Lockenkopf und geblähter Brust: »O Mädchen, Mädchen, / Wie lieb ich dich! / Wie blickt dein Auge! / Wie liebst du mich!«, singt der Jüngling Goethes Worte in Beethovens Tönen. Geschmeidige Stimme. Dietrich Fischer-Dieskau tritt näher, eine hohe Gestalt, dunkel gekleidet, lässt wiederholen, singt ein wenig mit, unterstreicht das »liebst« mit einer Armbewegung, er formt es, und man ahnt, was alles in diesem Wort steckt. Vielleicht sogar ein bisschen Selbstgenuss? Weidet sich der Dichter nicht auch an dem, was er bei seiner Geliebten anrichtet? »Ein gewisser Grad von Brunst ist ja dabei«, sagt der Meister lächelnd. »Friederike von Sesenheim muss sehr hübsch gewesen sein… So, einmal kannste noch. Komm.«

Auch Patricia Highsmiths smarter Mörder Tom Ripley liebt diese Stimme

Dietrich Fischer-Dieskau schickt den Jüngling mit einem Klaps wieder ins Mailied. Gesangskurs an der Universität der Künste in Berlin, fünf Minuten vom Bahnhof Zoo entfernt – und doch nicht ganz von dieser Welt. Es ist eigentümlich, im Dunkeln zu sitzen mit rund vierhundert andächtigen, teils eifrig mitnotierenden Bildungsbürgern und Studenten, auf Sänger zu schauen und Kunstlieder zu hören. Singender Jüngling im lockigen Haar – es hat zunächst etwas rührend Anachronistisches, aber je länger der bald achtzigjährige Lehrer an Takten feilt, an Worten, desto deutlicher wird, dass diese fragile, zweihundert Jahre alte Musik uns etwas sagt. Das Podium rückt ins Zentrum der Welt. »O Erd, o Sonne! / O Glück, o Lust!« Der Lehrer will die Worte nicht nur deutlich haben, er will ihre Tiefe, Form und Kraft.

Und er ist nett zu seinen Schülern. Schließlich ist für sie auch eine gewisse Scheu zu überbrücken vor einem Mann, der mit achtzig Jahren immer noch einer der berühmtesten Musiker der Welt ist. Rund um die Erde hat man ihn auf Konzertpodium und Opernbühne gefeiert und verehrt. Er war es vor allem, der seit den fünfziger Jahren das romantische Klavierlied aus dem Schatten des Operngesangs holte und konzertfähig machte, mit deutendem Nachdruck die öffentliche Einsamkeit des Liedgesangs einem riesigen Publikum erschließend. Tausend Plattenaufnahmen gibt es mit ihm, davon zehn Mal Franz Schuberts Winterreise. Bis in die Weltliteratur ist »FiDi« damit geraten: Patricia Highsmiths Talentierter Mr. Ripley sammelt Platten des Berliner Sängers, die er nach seinen Morden in New York zur Entspannung auflegt…

Am kleinen Klingelschild vor der Charlottenburger Villa steht in verwitterter Schreibmaschinenschrift: »Fischer-D.« In diesem Haus, einem schnörkellosen weißen Bau der frühen Moderne, wohnt der Sänger seit 57 Jahren. Direkt aus dem Elternhaus ist er hierhin gezogen, als seine Laufbahn begann. Hier bestaunte ein Reporter, der 1964 für eine Titelstory des Spiegels recherchierte, den »livrierten Butler« des nicht einmal 30-jährigen Weltstars. Doch jetzt wird die Tür von einer asiatischen Hausangestellten geöffnet. Dann erscheint der Meister. Ungebeugt, an die zwei Meter hoch, schwarze, nobel legere Kleidung. Mittelkurzes Silberhaar, das rosige Gesicht eines 60-Jährigen, der Gang gelassen und elastisch, die Stimme locker, die dunklen Augen verraten nichts.

Auf dem Couchtisch in der Mitte einer Suite stehen Tee und Konfekt, ringsum großbürgerliches Ambiente mit Flügel und Kamin, Büchern und Bildern, gediegen, nicht geprotzt, noble Balance. In einer solchen befindet sich auch der Hausherr. Von dem man gern wüsste, wie es ihm mit seinen begabten jungen Schülern ergeht, ob ihre Anfänge den seinen zu vergleichen sind. Nun ja, »Erleichterung« äußert er darüber, »dass noch Interesse da ist am Lied«. Aber vom Glück des Unterrichtens lässt er jetzt wenig merken. Doch, ja, es seien ganz Fleißige dabei. Viele Schüler hätten indessen falsche Vorstellungen vom Gesang und wollten mit wenig Mühe leicht zu Geld kommen. Und: »Wie erziehe ich junge Leute dazu, wirkliches Legato zu singen? Wie kann ich es erzwingen, ja ertrotzen?«

Er lächelt. Tatsächlich geht er ja keineswegs despotisch mit den Schülern um und respektiert auch ihre Scheu. »Es ist eine Frage des Takts«, sagt er, »dass man die nicht verwirrt.« Bei ihm selbst hätten Scheu oder Lampenfieber »nie eine Rolle gespielt. Als ich anfing, war ich in der glücklichen Lage, ans Singen und an nichts anderes zu denken …« Er erinnert sich gern, wie nach ersten Auftritten 1948 ein Berliner Gesangspädagoge ihm zurief: »Sie werden kein Jahr mehr singen, kein Jahr!« Und Karl Erb, der berühmte Tenor, 70 Jahre alt, lud den 23-Jährigen ein: »Kommen Sie zu mir, damit Sie lernen, wie man Schubert singt. Das hat der fertiggebracht! Nein, natürlich bin ich nicht hingegangen!« Fischer-Dieskau lächelt fern, noch immer amüsiert fassungslos über die »warnenden Stimmen« damals.

Doch er selbst geht mit dem jungen Sänger, der er war, nicht ungern ins Gericht. Seine erste Aufnahme der Winterreise, für den Rundfunk, habe »eine larmoyante Note, die Schubert peinlichst vermieden hat«. Überhaupt habe er den Zyklus »zwei, drei Mal zu dramatisch gesungen«. Auch wenn Fischer-Dieskau so selbstkritisch wird, hat das nichts von Vertraulichkeit oder gar gerührtem »Ja, das bin ich auch«. Es ist dann eher, als blicke er auf seine Sängerlaufbahn wie auf ein Werk, einen Gegenstand, einen Vorgang in der Welt. Fazit seiner Entwicklung: »Im Allgemeinen geht es auf die Einfachheit hin und weg vom Weinerlichen.« Von Gefühlen in der Musik spricht er wenig, an den Liedern der Winterreise bewundert er die »unglaubliche Logik«: »Es entsteht in diesen 24 Passionsmomenten eine Einheitlichkeit, die erstaunlich ist.«

Erstaunlich einheitlich wirkt auch das Leben dieses Mannes. Seine Kunst stieg kometengleich und stabilisierte sich zum Fixstern, von einer Krise weiß er nichts oder gar von Überdruss am Singen oder Beengung durch den Ruhm. »Es gibt kurze Abschnitte, wo man sich auf einer etwas tieferen Talsohle bewegt«, bekennt er immerhin und setzt leise und wie beiseit hinzu: »Wer hat das nicht…« Ärger über Verrisse, das schon, mit Verrissen hat er mal ein Gästeklo tapeziert, »aber ich ärgere mich nie länger als drei Stunden… Man ist ja nicht so wachsam, wie Goethe es war.« Der habe Hausverbote gegen Theaterrezensenten verhängt. »Eine Selbstschonungsmaßnahme, deren Grund ich sehe.« Goethes Erfolg habe auch Neid und Hass erregt. »Es gab längere Zeiten, wo er wirklich down war.«

Man soll sein Leben sternförmig organisieren…

Wenn der Sänger Goethe erwähnt, den weltlichen Heiligen jenes akademischen Bürgertums, in dem Dietrich als Sohn eines Altphilologen und einer Pianistin aufwuchs, tritt eine besondere Wärme in seine Stimme. Es erscheinen da ja auch einige Parallelen. Das Objektivieren des Subjektiven in der Kunst. Die stetige harmonische Selbsterneuerung, begleitet von wechselnden Partnern – darunter eine kurze Ehe mit der Schauspielerin Ruth Leuwerick und seit dreißig Jahren die Verbindung mit der Sopranistin Julia Varady. Enorme Wirkungsmacht, umglänzt von Ehrungen und Preisen. Eine imperiale Vielseitigkeit – Dietrich Fischer-Dieskau verfügt nicht nur über das wohl größte Repertoire, das je ein Sänger hatte. Er dirigiert auch, er malt, er schreibt Bücher, elf sind bislang erschienen.

Darunter sind neben seinen Memoiren Werke über Hugo Wolf, über die Lieder von Schumann und Schubert, über Zelter und Reichardt, Nietzsche und Wagner. »Wahrscheinlich war alles umsonst, das war binnen kurzem verramscht, aber das macht ja nix, mir hat es Spaß gemacht. Da hat man eine Aufgabe, die nicht so leicht zu bewältigen ist wie das, was man von Haus aus kann und früh bewältigt hat.« Derzeit arbeitet er an einem Buch über Brahms. »Der ist als Pianist viel mehr gereist, als Musiker das heute tun – und dann noch ohne Plan, das wäre heute nicht denkbar. Ich würde mir eine Tournee immer so legen, dass man von einem Punkt aus sternförmig reist.« Vielleicht ist dieses sternförmige Planen ein Grundrezept für Fischer-Dieskau: Die Mitte nicht verlieren.

Vor allem aber das Niveau. Es zu halten, sagt er, sei »Teil der Aufgabe«. »Das ist anstrengend. Dafür habe ich Opfer gebracht. Ich habe nicht in dem Sinn gelebt, wie … ein Playboy lebt. Es gab auch welche, die es sich leisten konnten zu leben und sich nicht ruiniert haben. Dazu gehöre ich nicht.« Falls da ein Hauch von Wehmut wehen sollte, wischt er ihn weg. »Janá‡ek beispielsweise sagt ja zu allem – deshalb habe ich ihn nie gemocht. Ich sehe das Singen überhaupt als einen erhobenen Zustand an. Wer sich da hinstellt, muss sich in eine andere Sphäre begeben und kann nicht nur er selbst bleiben, sonst werden wir mit dem Gewöhnlichen konfrontiert. Sie merken schon«, fügt er, den hohen Ton brechend, an, »dass ich solche Kernsätze dauernd von mir gebe.« Noch so ein Kernsatz: »Aufregung trägt nicht dazu bei, dass etwas besser wird.«

Doch dann wird er nachdenklich. »Erregung, natürlich. So etwas wie Fieber, das muss sich immer einstellen. Das Fieber kann sogar zur Überlegenheit verhelfen.« Er betont das »kann« so sorgfältig wie Loriot. »Da gibt es diesen Witz von Nestroy: Wenn alle Stricke reißen, dann häng ich mich auf. Eine schöne Verrücktheit ist dabei. Aber eine vom Werk begrenzte. Wir dürfen nicht machen, was wir wollen. Wir dürfen Eingebungen haben. Aber nicht gegen das Stück! Nicht gegen das Stück! So weit reicht unsere Kompetenz nicht. Das sehen die meisten nicht mehr ein. Insofern gehöre ich wirklich in eine andere Zeit.« Viel gibt es nicht, was ihm heutzutage gefällt, und das Allerschlimmste, noch vor dem Regietheater, ist der Verlust des Legato. Des Verbindens. Bei allen Musikern. »Es gibt kein Legato mehr, das möchte ich behaupten.«

Damit meint er, »die Linien rauszuholen, die drinstecken«. Darum habe er sich auch bei Schönberg bemüht. Aber heimisch fühlt er sich in der Musik des 20. Jahrhunderts nicht. »Ich hab’s versucht, aber es ist mir nicht so recht gelungen.« Mit der Aufgabe der Tonalität sei »seit 1911 der Ansatz zum Ende« da, gefolgt vom »krampfhaften Bemühen, Musik zu machen«. Hat er aber nicht viel Kraft und Zeit in Opern von Hans-Werner Henze und Aribert Reimann gesteckt, aus Reimanns Lear eine Gestalt von Überlebensgröße gemacht? »Das war das Anstrengendste. Im großen Ausbruch das größte Fortissimo – meine Stimme ist ja eine schmale Stimme. Und diese psychische Belastung ist ja enorm.« Fehlen ihm jetzt, zwölf Jahre nach dem Abschied von der Bühne, solche Strapazen? »Ja«, sagt Fischer-Dieskau leise, »’türlich. Richtig.«

Aber er hat die Bühne nicht verloren. Das merkt man, als im Kurs eine junge Sopranistin Goethes Lied der Mignon singt, von Schumann vertont: »Kennst du das Land…« – »Da sind immer Tränen drin«, hat der Lehrer ihr gesagt. Eine schmale, bescheidene Frau, eine besondere Stimme, sensibel der Sehnsucht folgend: »Dahin möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.« Dann wird im Text der Geliebte zum Beschützer, schließlich zum Vater, und da singt sie den Lehrer an. Strophe für Strophe ist er näher getreten, am Ende singt er, ihr zugeneigt, behutsam mit. Und auf einmal ist das kein Unterricht mehr, es ist eine Szene, sie ist Mignon und er der Dichter, und das Land, wo die Zitronen blühn, ist jenes, zu dem alle Künstler wollen, ein herzzerreißend ferner Süden. Den sieht man jetzt. Ein Aufbruch.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 25.05.2005