Im klaren Licht des Pazifiks

Das Leben ist zu kurz, um es zu vergeuden: Der unberechenbare Dirigent Esa-Pekka Salonen und das Los Angeles Philharmonic Orchestra bringen kalifornische Vitalität an den Rhein

Es dauert lange, bis man weiß, wer man ist, sagt Esa-Pekka Salonen. Er sieht fast ein bisschen zu jung aus für solche Lebensweisheiten, unzerknittert und sportlich, wie er da sitzt in Jeans und T-Shirt und Espresso trinkt. Dass der finnische Dirigent 47 Jahre alt ist und kein ewiger Jüngling, merkt man an den Augen, tiefblau, Ferne und Nähe verbindend. Und an der ruhigen Redeweise. Mit 40 ist ihm klar geworden: Irgendwann ist das Leben zu Ende (Oh God – I’m mortal. I’m gonna kick it one day!) Entsetzlich? Er lächelt. Es war eine unbeschreibliche Befreiung für mich! Das Leben ist zu kurz, um es für shit zu verschwenden. Das hat Salonen aber schon vorher nicht getan. Mit elf wollte er Musiker werden. Er wurde es. Seit 20 Jahren zählt er zur Weltspitze der Dirigenten und ist auch als Komponist erfolgreich. Wenn sich Wünsche so schnell und groß erfüllen, braucht die Identität vielleicht besonders lange, um hinterherzukommen.

Überflieger verlieren leicht den Boden unter den Füßen. Aber wie gut Salonens Bodenkontakt ist, sieht man schon, wenn er probt. Kölner Philharmonie, vormittags. Das Los Angeles Philharmonic Orchestra, das sich da bunt auf der hellen Bühne verteilt wie eine große Reisegruppe am Strand, hat nichts von der Hab-Acht-Stimmung, mit der viele Orchester auf den nächsten Einsatz warten. Dann strafft sich Salonen, der gerade noch gescherzt hat, und Strawinskij bricht aus, Le Sacre du Printemps, die bis heute moderne Moderne des Jahres 1913. Ziffer 37, Entführung, rituelle Jagd der Jünglinge nach Mädchen. Neblige Triolenakkorde der Streicher am Anfang, darunter dumpfe knappe Schläge im Offbeat, darüber jagende Fanfaren, dann entstehen Wellen, Yes!, ruft der Dirigent, vorerst der letzte Ruf, der durchs Getöse dringt und der bedeuten mag: Keine Angst!

Keine Angst vor Sechzehntelseptolen über Achtelketten, Taktwechseln, rasenden Repetitionen, Gegenbewegungen? Das alles können die 105 Musiker sowieso perfekt. Ihnen will Salonen eher Freude vermitteln auf das, was daraus entstehen kann: das Unberechenbare, der Aufbruch, der Ausbruch. Der Finne stemmt sich in den Boden und der Musik entgegen, er federt, spannt tänzerisch den Körper, lässt die rechte Hand – ohne Taktstock – wie einen Raubvogel auf einen Blecheinsatz zustoßen. Die Kräfte sind entfesselt, aber nicht zur Zerstörung. Was dann in Tönen zu erleben ist rund um den vibrierenden, geerdeten Dirigenten, lässt sich mit dem feierlichen Begriff der Stringenz schlechter fassen als schlicht mit dem, worum es im Sacre auch geht: Sex.

Lieber lässt Salonen zwei Ungenauigkeiten durchgehen, als das jetzt abzubrechen. Dann ruft er strahlend zu den Bratschen: Good morning!

Der Jetlag ist längst verkraftet, ein Konzert schon gespielt mit der Symphonie fantastique. Glühend autobiografische Musik des 26-jährigen Hector Berlioz, der hier seine Liebe von wahnsinniger Herzensangst bis zum Hexentanz geborstener Hoffnungen komponierte. Die formale Entgrenzung, die anno 1830 die Hörer schockte, die Offenheit fürs Fragmentarische ist unter Salonens Leitung wunderbar zu erleben. Brüche und Klangextreme werden von den Kaliforniern wie in Nahaufnahme, ja Vergrößerung realisiert, präzise und opulent. Die dramatische Entwicklung gerät dabei in den Hintergrund. Das Nacheinander wandelt sich in ein Nebeneinander. Eigentlich wird hier nichts erzählt. Aber die Musik ist sehr transparent. Sie erklingt weniger als abendländische Passion, leuchtet dafür in einem pazifischen Licht.

Seit 1992 lebt Esa-Pekka Salonen mit seiner Familie als Music Director in Los Angeles. Hier werden an die 180 Sprachen gesprochen, multiethnischer und globaler geht es kaum. Das schärft die Identität. Hier entdeckt man, wer man ist, nicht den Kalifornier in sich.

Hier hat Salonen sich auch als Komponist neu gefunden. Fern vom Serialismus, der ihn einst beeindruckte, ja bedrückte. Es war ein wunderbarer Moment.

Sonne, Kaffee, Vögel – I feel free! Okay, ich weiß nicht mehr, ob wirklich die Sonne schien … Frei vom Fortschrittsregularium der europäischen Avantgarde, frei, Musik nach seinem Geschmack zu schreiben, für großes Orchester, mit durchaus romantischen Gesten und einer Harmonik, in der sich modulieren lässt. Alles auch für Laien genießbar, passend zum Image des Los Angeles Philharmonic Orchestra: Not being exclusive. Gleich drei seiner Stücke hat er zum Fünf-Tage-Gastspiel der Kalifornier nach Köln mitgebracht.

Salonens eigene Kompositionen sind komplexe Spielzeuge fürs Orchester

Das kann man eitel finden oder mutig. Kunstvoll spielt seine Musik mit Effekten, allüberall drehen sich Räder und schimmern Farben aus dem Baumarkt der großen Orchesterliteratur rund um Strawinskij. Was dabei ermüdend wirkt, ist der Eindruck, dass die Elemente um ihrer selbst vorgeführt werden wie auf einer Modellbahn: Jetzt kommt der Tunnel … Man kann sich darauf verlassen, dass einem Harfenglissando nach oben eine Klangsäule folgt. Und dass nie wirklich Ruhe, Stille, Entfernung riskiert werden. Stets muss auf vorderster Ebene etwas wirken, sei es im Cellokonzert Mania oder dem Orchesterstück Insomnia – gut gebauter, leer laufender Pathosbombast, für den es in der einstigen Serialistenfestung Köln sogar ein Buh gibt. Im jüngsten Werk kommt aber doch etwas hinzu. Wing on Wing (2004) ist ein so komplexes Riesenspielzeug, dass man sich mit Vergnügen darin verirrt.

Sehr showy, diese Musik. Kalifornisch? Salonen wehrt ab: Ich bin ein finnischer Komponist! Auch diese Identität scheint unter pazifischer Sonne eher gewachsen zu sein, frei von den Bedenken, die ein deutscher Komponist hätte, sich als solchen zu bezeichnen. Was ist finnisch? Wir sind sprachlich völlig isoliert vom Rest der Welt. Wir sind nah an Russland und waren lange unter russischer Herrschaft. Klassische Musik ist wichtig für die Identität des Landes – für die Verbindung zum Westen. Also wird die musikalische Ausbildung sehr ernst genommen. Bei uns ist es ganz natürlich, Dirigent zu werden, kein verrückter Traum. Darum produzieren wir dauernd Dirigenten …

Die Nähe zwischen Musik und Identität scheint da eher eine kollektive als eine individuelle zu sein. Dazu passt Salonens Äußerung, er spiele nur, was in den Noten steht, und sehe nicht den Komponisten hinter einem Opus.

Bei Berlioz bleibt dadurch eine Ferne, in der uns Hectors brennendes Herz nur auf Umwegen wärmen kann. Doch umso besser passt die objektive Haltung zu Anton Bruckner. Der österreichische Landneurotiker wich in seinen Sinfonien dem ungewissen Ich in Gegenden aus, die mit einer Erzählung nicht zu erreichen sind. Seine Siebte klingt in der Kölner Philharmonie zunächst, als halte Salonen – der diesmal feierlicher wirkt und mit Taktstock operiert – es mit der Tradition raunender Metaphysik. Schrecklich langsam, extremes Legato.

Doch das Raunen bleibt aus, stattdessen stellt sich Klarheit ein. Als die Flöten und die Bässe ihre Linien gegeneinander biegen, glaubt man hörend die Natur zu betrachten – Vögel und Felsen.

Ich glaube, dass Musik ein biologisches Phänomen ist

Solche Klarheit hat auch mit Technik zu tun. Die Intonation ist makellos, das Zusammenspiel von selbstverständlicher Präzision. Von den Geigen bis zu den Kontrabässen betört ein Volumen, das sich aus schlankem Kern entwickelt. Die Bläser klingen geschmeidig (bis auf den letzten Satz, da lässt im Blech die Kraft nach) und sensibel – hechelndes Flötenvibrato kommt nicht vor. Als im zweiten Satz über breiten Bläserstufen die Geigen unablässig ihre Sechzehntel aufsteigen lassen, geschieht das mit einer solchen Ruhe und Grenzenlosigkeit, dass man glaubt, immer weiter auf ein offenes, spiegelndes Meer zu geraten, ganz menschenfern, die Angst dabei wird nur von der Schönheit balanciert. Am Ende des Adagio, wenn sperriges fis-moll in einen weichen Cis-Dur-Klang kippt, wird das in einem Sekundenbruchteil mit solcher Feinheit umgeschmolzen, dass es einen im Tiefsten bewegt, wie auf molekularer Ebene.

Ich glaube, sagt Salonen, dass Musik ein biologisches Phänomen ist, vor allem. Musik und Sprache waren mal eins. Ausdruck der tiefsten Gefühle. Erst als die Welt exakt beschrieben werden musste, hat sich beides getrennt. Auch in der Hirnrinde, wie man jetzt weiß. So blieb Musik die Sprache fürs andere.

Das ist ihre Funktion: uns mit einem Teil der Seele zu verbinden!

Während Salonen sich bei Bruckner so aufs Elementare einlässt, dass die bewussteren Sätze, der dritte und vierte, leicht unterbelichtet bleiben, ist beim Sacre wirklich alles da. Sex sowieso, aber auch ein wohlkalkulierter Stau vor atavistischer Wucht, mittendrin eine lässig schaukelnde Barmusik, gefährlich ironisch, und einmal, im Tanz der Erde, ein Geschwindigkeitsrausch an der Grenze des Spielbaren. Der muss sein.

Denn es ist, als folgten Salonen und das Los Angeles Philharmonic neben der Musik auch dem, was sie bei den Hörern ausgelöst hat. Die sind jetzt hellwach, jetzt wollen sie alles. Vielleicht ist es das, was Salonen meint, wenn er über seine Identität als Musiker nachdenkt und über den Weg dahin: zu wissen, dass das kein Luxus ist. Dass Musik dringend gebraucht wird. Als er in einem Armenviertel im Großraum Los Angeles mal Beethovens Neunte dirigierte, kam hinterher eine Mutter und wollte ihr Kind von ihm segnen lassen. Strange, meint er nachdenklich, almost religious. Manchmal wird ihm so viel Verantwortung zu viel. Er würde gern an einen kleinen Ort ziehen und mehr Musik schreiben, sagt er. Es wäre schade um so einen Dirigenten.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 06.05.2010