Einsame Gipfel

In Schumanns Klavierkonzert und Mahlers 5. Sinfonie stecken auch Liebeserklärungen an Ehefrauen, die als Komponistinnen verstummen

Immer wohler. Eine Phantasie angefangen (m. Orch.).« Dienstag, 4. Mai 1841, Robert Schumann sitzt in der Leipziger Inselstraße in der Wohnung, die er im September 1840 mit seiner Frau bezog, nach der auf dem Rechtsweg erkämpften Hochzeit mit der um neun Jahre jüngeren Clara Wieck. Die 22-jährige Pianistin hat jetzt wieder mit dem Üben begonnen, »eine Stunde Tonleitern und Uebungen zu spielen, damit ich nur wenigstens nicht Alles verlerne«, wie sie halb entschuldigend ins gemeinsame Ehetagebuch schreibt, »aber mit dem Componieren ist doch auch gar nichts mehr — alle Poesie ist aus mir gewichen.« Da geht es ihm anders. Seine »Frühlingssinfonie« hat Robert im Januar desselben Jahres in wenigen Tagen hingeworfen, während dieser Zeit allerdings durfte Clara keinen Ton spielen, die Wände hier sind zu dünn. Inzwischen ist sie im fünften Monat schwanger. Was wird bleiben von der europaweit gefeierten Virtuosin?

Weit mehr, wie wir wissen, als nur das »Chiara«-Motiv in der Fantasie für Klavier und Orchester, die Robert an diesem Tag begonnen hat und die später den ersten, den bahnbrechenden Satz seines Klavierkonzerts bilden wird. Ein Konzert für Clara, ohne sie nicht denkbar, nicht ohne die Frau, die Pianistin und die Komponistin. Schon mit 14 Jahren hat auch sie ein Klavierkonzert geschrieben, ebenfalls in a-Moll. Und als sie 19 Jahre alt ist, fordert sie Robert heraus, »dass Du doch auch für Orchester schreiben möchtest. Deine Fantasie und Dein Geist ist zu groß für das schwache Klavier. Sieh doch, ob du es nicht kannst?«

Schon lange teilen sich die beiden eine poetische Parallelwelt, in der Clara Chiara heißt, und die Ton-Buchstaben daraus bilden das Motiv, auf das die ganze neu entstandene Fantasie zurückgeht: C, H, A, A. Man hört es zuerst von der Oboe vorgetragen, von Klarinette, Horn, Fagott sanft sekundiert. Doch davor noch beginnt das Stück mit einem Tuttischlag des Orchesters und einer Klavier-Eruption wie aus einem Beifall erheischenden Virtuosenkonzert, das Schumann eben gerade nicht schreiben wollte. Eine Akkordkaskade, von oben nach unten stürzend, ein von Energie platzendes »Da bin ich«. Das könnte Clara sein. Aber auch im »Chiara«-Thema ist sie gegenwärtig, so sanft wie wandelbar.

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Dieses Thema trägt alles, es gibt kein anderes, umso mehr daraus abgeleitete Motive und Varianten, eine davon nach As-Dur entrückt im Sechsvierteltakt. Das ist der latente langsame Satz in dieser Fantasie, mit der Schumann ein Konzept von 1836 realisiert. Da dachte er in seiner Neuen Zeitschrift für Musik über eine neue Konzertform nach, »die aus einem größeren Satz in einem mäßigen Tempo bestände, in dem der vorbereitende Theil die Stelle eines ersten Allegros, die Gesangsstelle die des Adagio und ein brillanter Schluß die des Rondo vertreten.« In so einen Schluss geht es mit dem Kaskadenmotiv, mit dem sich Klavier und Orchester ablösen – ohrenfälliges Beispiel für eine weitere Novität: die dichte Verzahnung von Solopart und Orchester. Die fiel Clara Schumann bereits auf, als sie das Stück probehalber mit dem Orchester des Gewandhauses durchspielte: »Das Clavier ist auf das feinste mit dem Orchester verwebt – man kann sich das Eine nicht denken ohne das Andere.«

Obwohl Schumann die Fantasie noch überarbeitete, kam es vorerst weder zur Aufführung noch zur Drucklegung. Zu stark war die Konvention des Konzerts in drei Sätzen, der Schumann allerdings erst 1845 nachgab. In vier Sommerwochen – inzwischen ist die Familie nach Dresden umgezogen – wird der Finalsatz fertig, dessen Thema wiederum als Variante des »Chiara«-Themas startet, in A-Dur und im rasanten Dreivierteltakt. Den nutzt der Komponist für einen Verlangsamungseffekt: Je zwei Dreivierteltakte werden streckenweise zu einem Takt aus drei halben Noten umgedeutet, was zwar schon ein älterer Trick ist, hier aber so raffiniert eingesetzt, dass bis heute manche Dirigenten an dieser Stelle aus der Kurve fliegen. Weniger gewagt ist der »neutrale, von Schumanns sonstigem Klavierstil abweichende etüdenhafte Klaviersatz« im Finale, dem Analytiker Markus Waldura zufolge ein »Einlenken in Gattungskonventionen«, das aber auch den Kontrast zur Poesie des ersten Satzes unterstreicht.

Danach erst entsteht der kleine Mittelsatz, das Intermezzo. Wie beiläufig schließt es an den Kopfsatz an, indem die aufsteigenden Achtel aus dessen Thema isoliert werden – als Andantino-Sechzehntel, die sich sofort zu einem Dialog zwischen Klavier und Orchester entwickeln. Die drei Töne zitieren aber ebenso das Thema aus der Romanze in Clara Schumanns eigenem a-Moll-Klavierkonzert. Für den Übergang aus dieser verträumten Innenwelt zum vitalen Finale wird unversehens in den Holzbläsern wieder ein Teil des »Chiara«-Themas zitiert. Auch das trägt zu dem Eindruck bei, man habe hier ein Konzert wie aus einem Guss vor sich.

Als Schumann seiner Frau die Noten übergibt, hat sie wieder kaum Zeit zum Üben – im März 1845 ist das dritte Kind der beiden zur Welt gekommen, ein viertes ist bereits unterwegs. Trotzdem schafft es Clara Schumann, das Werk am 4. Dezember zur Uraufführung zu bringen, im Dresdner Hôtel de Saxe. Das Presse-Echo ist glänzend, entscheidend aber ist die Leipziger Erstaufführung am Neujahrstag 1846. Felix Mendelssohn Bartholdy leitet die Proben, während – vermutlich – Niels Wilhelm Gade die Aufführung im Gewandhaus dirigiert. Im Juli des Jahres erscheint das Opus 54 beim Verlag Breitkopf & Härtel. Dass es bald zu den beliebtesten Klavierkonzerten zählt, ist Clara Schumann zu verdanken: In den etwa 190 Aufführungen in Europa bis 1900 ist sie mehr als 100mal die Solistin. Selbst komponiert hat sie allerdings nur noch wenig, und ein weiteres Klavierkonzert aus ihrer Hand kam nicht über den ersten Satz hinaus.

Ganz großes Kino: Mahlers Fünfte

»Wie stellst du dir so ein componierendes Ehepaar vor? Hast du eine Ahnung, wie lächerlich und herabziehend vor uns selbst so ein eigentümliches Rivalitätsverhältnis werden muss?« Im November 1901 hatten sich Gustav Mahler und Alma Schindler ineinander verliebt, im Dezember stellte der Komponist der 19 Jahre jüngeren Frau schon Bedingungen für die Zukunft. Sie ließ sich darauf ein. Vielleicht hatte er ihr da – die ersten drei Sätze seiner 5. Sinfonie waren seit dem Sommer fertig – bereits jenes Adagietto überreicht, in dessen Partitur der Dirigent Willem Mengelberg später schrieb: »Dieses Adagietto war Gustav Mahlers Liebeserklärung an Alma! Statt eines Briefes sandte er ihr dieses im Manuskript, weiter kein Wort dazu. Sie hat es verstanden u. schrieb ihm: er solle kommen!!! (beide haben mir dies erzählt!)«

Mahler reichte Alma dann doch noch Worte zu den Tönen nach, die die Violinen in den ungewissen Anfang hineinsingen: »Wie ich dich liebe, du meine Sonne / Ich kann mit Worten dir’s nicht sagen …« Wie Mengelberg, der mit Mahler die Sinfonie erarbeitete, dessen Vorstellungen von Phrasierung bis Tempo umsetzte, kann man in seiner Aufnahme von 1926 hören, mit gut sieben Minuten die wohl kürzeste dieses Satzes, über dem »sehr langsam« steht. Die meistgehörte von weit über 200 Aufnahmen bis heute ist zweifellos die mit dem Orchestra Dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia von 1971: Einfach deswegen, weil Franco Mannino hier den Soundtrack für Tod in Venedig dirigierte, Luchino Viscontis meisterhafte Verfilmung der gleichnamigen Novelle von Thomas Mann. Das Adagietto geht da keineswegs in der Lagune unter, es trägt perfekt die morbide Atmosphäre, das verbotene Verlangen des alternden Hauptprotagonisten. Die Einstellungen und Schnitte zu Beginn des Films folgen dabei subtil, wie eine gute Choreografie, den Ereignissen in der Musik.

Zum allerersten Mal war die ganze Sinfonie am 18. Oktober 1904 im Kölner Gürzenich zu hören. Der 44-jährige Gustav Mahler hatte mit dem Cölner Städtischen Orchester (dem späteren Gürzenich-Orchester) sieben Tage lang geprobt. Es wurde keineswegs ein rauschender Erfolg. »Nur zu einem schwachen Beifall, der von Opposition nicht frei blieb« sei es gekommen, vermerkte ein Kritiker, der ohnehin nur »eine große Reihe von Absurditäten« gehört hatte. Mahlers Wiener Assistent Bruno Walter, der auch anwesend war, hatte eher ein Problem mit der Umsetzung: »Es war das erste und, ich glaube, einzige Mal, dass mich die Aufführung eines Mahlerschen Werkes unter seiner Leitung unbefriedigt ließ.« Der Komponist selbst kabelte aus dem Domhotel an seine Frau: »auffuehrung gut publikum gespannt erst befremdet zum schluss begeistert.« Indessen hatte er bereits zuvor nicht mit allzu viel Verständnis gerechnet: »O, könnt’ ich meine Symphonien fünfzig Jahre nach meinem Tode uraufführen!«, schrieb er Alma schon nach der Generalprobe.

Militärfanfaren und Klezmer-Melancholie

Im Trauermarsch, dem ersten Satz, hören wir zuerst zwölf Takte lang nur Trompeten, Auftakttriole, langer Ton. Zum einen ist das ein Gruß von der einen Fünften zur anderen, zu Beethovens »Schicksalsmotiv«. Dass diese Takte aber auch in Mahlers Gegenwart führen, schreibt er selbst dazu. Die Triolen »müssen stets etwas flüchtig (quasi accel.) nach Art der Militärfanfaren vorgetragen werden.« Militärtrompeter, so der Dirigent Michael Gielen dazu, »spielen nicht rhythmisch, sie können nur einfach stoßen und sie können nicht sehr schnell spielen: Sie spielen ZU schnell.« Und was sie spielen, ist dasselbe k. u. k.-Signal, das schon Joseph Haydn zitierte und das Mahler als Kind, von Militärmusik zutiefst fasziniert, in Iglau beim Spielen auf dem Kasernengelände hören konnte.

Noch vor dem amerikanischen Komponisten Charles Ives hat Gustav Mahler Trivialmusik nicht mehr oder weniger herablassend zitiert, sondern als grundlegendes Material in seine Kompositionen integriert: Mal quasi realistisch wie die Militärfanfaren, mal an Brahms erinnernd eingekleidet[H6]  wie das zweite Thema, ein schwelgerisch-melancholisches, in dem Musik des jiddischen Schtetl anklingt. Iglau war freilich kein Schtetl, in Mahlers Familie sprach man deutsch, »eine Klezmer-Gegend war es nicht«, schreibt der Publizist Jens Malte Fischer über das mährische Städtchen. Allerdings schließt er nicht aus, dass den Spielleuten dort »das Klezmer-Idiom nicht fremd war.« Bis heute rühren Autoren und Wissenschaftler den Aspekt des „Jüdischen“ in Mahlers Musik mit eher spitzen Fingern an, anders als Musiker von Leonard Bernstein bis Uri Caine, der 1997 mit seinem Ensemble in einer eigenwillig verjazzten Interpretation die ganze Klezmer-Melancholie des Trauermarschs freilegte.

Aus demselben Bereich scheint das »molto cantando«-Thema zu kommen, das im zweiten Satz der Fünften einem furiosen Ausbruch folgt. »Der Satz hat kein erstes Thema im gewohnten Sinne«, schreibt Paul Bekker in seinem 1921 erschienenen, heute noch lesenswerten Buch Gustav Mahlers Sinfonien. »Eine Art motivischen Ausrufes steht dafür, zuerst ganz knapp gefasst: fünf Bassnoten, wild und leidenschaftlich hervorgestoßen, fast geschleudert, rauh, gebieterisch, auffahrend…« Es bleibt unerzählbar, was im Weltroman dieses Satzes alles aufeinandertrifft, verzahnt und entwickelt wird und in größter Spannung so verfolgbar bleibt, dass eine große Erzählung mit Zuspitzungen, Abstürzen, mit Plateaus von gleißendem Glück entsteht.

Zugleich ist dieser zweite Satz ein kontrapunktisches Ereignis. Intensiv hat sich Gustav Mahler mit Bach beschäftigt, die Gesamtausgabe seiner Werke stand in Mahlers Komponierhäuschen in Maiernigg. Vollkommen kontrapunktisch durchgearbeitet ist dann der dritte Satz, das längste Scherzo, das je geschrieben wurde – nach dem Weltroman des zweiten Satzes ein beinahe kosmischer Walzer. Der Tanzrhythmus hält alles zusammen, auch da, wo er in Fugati, apokalyptischen Bläser-Aufschreien, Paukenschlägen untergeht. Und mittendrin erklingt ein echter Walzer, pur und schön, wie ein Rückblick oder eine Liebeserklärung. Nichts stört den sanften Schwung der Streicher, für 23 Takte verschwindet die Kontrapunktik, man spürt die Sinnlichkeit dieses Tanzes. Wie ein Separée hat  Mahler ihn in die riesige Partitur gesetzt, intim instrumentiert. Es ist eine der erotischsten Passagen, die er je geschrieben hat.

Insofern nimmt  der  Walzer die Liebeserklärung im Adagietto voraus, das dem Scherzo als vierter Satz folgt und in seiner Kürze schon eine Introduktion für das ohne Pause einsetzende Finale ist. Das klingt allerdings zuerst gar nicht nach einem Finale. Ein pastorales Gespräch zwischen drei Bläsern führt auf eine Piste der guten Laune, die aber nicht ganz geheuer ist. Fröhliches Getöse mit jähen Wechseln, drei Fugenthemen, die auch mal gleichzeitig erklingen, Gassenhauer-Anklänge, Siegesmotive wie aus einem Sandalenfilm – ist das ironische Musik? Sind die Fugen nur »Stilmasken« auf einer Party? Freut Mahler sich des Lebens, der Liebe? Dreht er durch? Kein anderer Satz der 5. Sinfonie ist so vieldeutig und disparat. Es gibt darin auch eine Reminiszenz an das Adagietto. Das Tempo an dieser Stelle ist allerdings doppelt so schnell, der Rhythmus tänzerisch, die Liebe wird Koketterie … Man kann sich ihrer eben nie sicher sein.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm des Gürzenich-Orchesters Köln am 2., 3. und 4. Februar 2025, dirigiert von Sakari Oramo mit dem Solisten Mao Fujita am Klavier. Das Foto von Clara und Robert Schumann ist eine Daguerrotypie, um 1850.


“Alle Beziehungen in diesen Opern sind completely toxic”

Elena Stikhina hat eine steilsten Sängerkarrieren der jüngsten Jahre hingelegt. Eine Begegnung mit der russischen Sopranistin während der Proben zu “Manon Lescaut” in Zürich

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Bis heute ist sie stolz auf die weite Reise, die ihr Vater zu ihr unternahm, kurz bevor er starb. «Es ist so eine Erleichterung, dass er mich noch auf der Bühne erleben konnte», sagt Elena Stikhina. 6 000 Kilometer Luftlinie sind es von ihrem Geburtsort Lesnoi im Ural bis nach Wladiwostok am Pazifik, wo vor gut zehn Jahren ihre Karriere begann, wo ihr Vater sie als Zarin Militissa im Märchen vom Zaren Saltan von Nikolai Rimski-Korsakow sah und hörte – und wusste, dass er sich um seine Tochter keine Sorgen machen musste. Am neuen Opernhaus der Stadt, dem drittgrößten in Russland, war sie gerade fest engagiert worden, wenig später sang die 28-Jährige dort schon die Titelpartie der Tosca.

Von da an sind die grossen Frauenrollen von Giacomo Puccini nicht mehr wegzudenken aus der geradezu schwindelerregend steilen Karriere, die Elena Stikhina jetzt zum zweiten Mal ans Opernhaus Zürich führt – als Titelheldin in Manon Lescaut. «Üblicherweise wird Manon als etwas raffinierte Frau gezeigt», meint sie vor der Probe, «bei uns ist sie ein Teenager, ziemlich rock’n’rollish, sie macht immer das Gegenteil von dem, was man von ihr erwartet. Das ist dann auch ihr Drama. Barrie versucht, zu zeigen, wie sich ihr Charakter ändert, so dass die Leute am Ende mit ihr leiden. Ich finde es grossartig. Er verlangt Emotionen in jedem Moment, es gibt nicht eine Sekunde, die nicht ausgefüllt wäre.»

Mit Barrie Kosky hat sie schon mehrmals zusammengearbeitet, «er macht nie, was wir sonst sehen. Wenn da ein Limit ist, eine Linie, geht er immer darüber hinaus.» Besonders beeindruckt hat sie das im vergangenen Jahr in Amsterdam, als sie die Suor Angelica in Puccinis Trittico sang, jene nach einem Fehltritt ins Kloster geschickte Frau, die dort vom Tod ihres unehelichen kleinen Kindes erfährt. «Nachdem sie für ihr Kind gesungen hat, ist sie so emotional, dramatisch, verrückt, dass sie in dieser Produktion die Asche ihres Sohnes aus der Urne über sich schüttet. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Es war auch für mich herzzerbrechend, das so zu singen. Natürlich, wenn du zu emotional wirst, könnte es schwierig werden mit dem Singen. Aber wenn du die Balance findest, wie ein Akrobat auf dem Seil, gibt dir die Emotion mehr Farben.»

Schwester Angelica, Manon Lescaut, Tosca, Madama Butterfly, die Sklavin Liù in Turandot – fast alle Heldinnen in Puccinis Opern und vielen anderen Opern, die Elena singt, müssen am Ende sterben. «Sterben Sie gern auf der Bühne?» «Ja! Das ist sehr schön. In dem Moment, wo du stirbst, kannst du die Rolle verlassen und wieder du selbst sein. Du atmest den Charakter aus. Ausserdem ist es sehr emotional, auf der Bühne zu sterben, und Puccini weiß etwas vom Drama. Er weiß, dass Frauen auf der Bühne leiden sollten.» Das hat auch zu tun mit dem Frauenbild des 19. Jahrhunderts, weit von unserem entfernt. Wie kommt es, dass einem diese Gestalten immer noch so nahe gehen?

«Alle Beziehungen in diesen Opern sind completely toxic», meint sie, durchweg englisch sprechend. «Und wir sollten nicht vergessen, diese Frauen sind alle sehr jung. Salome ist dreizehn, Tschaikowskis Tatjana auch, unsere Manon ist auch noch sehr jung. Wenn man mit dreizehn, fünfzehn, siebzehn liebt, und die Liebe zerbricht, denkt man, das ist das Ende der Welt. Es ist die erste oder zweite Liebeserfahrung überhaupt. Teenager wissen nicht, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen können, sie sind extrem und revolutionär.» Auch das, meint sie, gebe den Gestalten ihre anhaltende Aktualität.

Und natürlich die Musik. Puccini ist der Sängerin besonders nahe, nicht nur der intensiven Gefühle wegen, auch, weil das Orchester oft die Stimme «verdoppelt», «und weil er immer komfortabel für die Stimme schreibt. Auch wenn es schwierig wird, ist es immer mit dem Atem geschrieben.» Aber sie singt ja nicht nur Puccini. Sie hat Strauss’ Salome an der Scala und in Zürich verkörpert, Wagners Senta im Mariinski in St. Petersburg, in Paris feierte man sie als Tatjana in Eugen Onegin, an der MET singt sie Verdis Amelia und Leonora – eine gewaltige Bandbreite, oder? «Not for me», sagt sie lachend. «Man hat nur eine Stimme, aber die Frage ist, wie man sie benutzt. Meine erste Lehrerin sagte, deine Stimme soll dein Freund sein. Dann kannst du machen, was du willst.»

Wie hat sie ihre Stimme entdeckt? «Das war nicht ich. Ich lernte Klavier an der Musikschule in Lesnoi, das war nicht gerade meine Passion. Ich wurde in der Schule aber immer wieder gebeten, zu singen, und stieß dann auf eine Lehrerin, die ein grosser Opernfan war, eine Pianistin mit einer riesigen CD-Sammlung. Sie hatte soviel Oper im Blut, das war wie ein Virus. Bis dahin hatte ich Operngesang gar nicht als Beruf ernstgenommen, und sie öffnete mir eine Welt. Aber was mich wirklich zur Oper brachte… Wenn du Gesangsunterricht hast, kommt irgendwann der Punkt, dass du diese Vibrationen im Körper spürst, wenn du singst. Und danach beginnst du süchtig zu werden. Du kannst nicht leben ohne das, was da in deinem Blut vorgeht, dieses Adrenalin!»

Ihr Vater, ein Ingenieur, liebte die klassische Musik und verehrte die Mezzosopranistin Olga Borodina, und er unterstützte den Berufswunsch seiner Tochter. Am Moskauer Konservatorium sorgte Elena Stikhina für einen Skandal, als sie es wagte, die Lehrerin zu wechseln. «So etwas ist in Russland nicht erlaubt, ein Lehrer ist eine Autorität! Aber eine Menge guter Stimmen wurden von Lehrern verdorben, das passiert auch weiterhin.» Den besten Rat, meint sie, habe ihr Makvala Kasrashvili gegeben, die sie nach ihrem Studienabschluss unterrichtete. «Sie sagte, ich kann dich nicht lehren, wie man singt. Ich kann dir den Weg zeigen. Aber wie man singt, das lernst du von dir selbst.»

Natürlich lernte sie auch von den Sängern, die sie in Aufnahmen und Vorstellungen hörte, aber ein Vorbild hatte sie nie. «Alle inspirieren mich, aber keiner von uns ist perfekt. Es gibt ein russisches Stück über eine Dame, die heiraten will. Sie kann sich für keinen der Kerle entscheiden und sagt, ich nehme vom einen die Nase, vom andern die Augen – sie kompiliert die alle!» Unvergesslich ist ihr vor allem der wohl letzte Auftritt der legendären Mezzosopranistin Irina Archipova, 1925 geboren, in einem Konzert. «Sie war schon ziemlich alt. Sie sang ein paar Barockarien, und ich war überrascht, wie rein und schön ihre Stimme war. Sie stand da und sang, und es war wie ein Zauber, wie wenn du von jemandem aus weiter Vergangenheit berührt wirst.»

Was Elena Stikhina vorantrieb, waren ziemlich hochfliegende Träume, die keineswegs alle sofort in Erfüllung gingen. «Von Anfang an,» sagt sie, «wollte ich die Liù in Puccinis Turandot singen, eine der schönsten Rollen überhaupt. So rein und natürlich! Letzten Oktober wurde der Traum wahr, an der Berliner Staatsoper.» Ein anderer Traum war das Debüt an der Scala. Die Salome von 2021 war noch kein richtiger Auftritt, «das war während der Pandemie ohne Publikum. Aber jetzt gerade habe ich dort die Leonora in La forza del destino gesungen, und ich war sehr nervös! Dieser Erwartungsdruck!» Da ist sie kritisch mit sich. «Ein bisschen Adrenalin, kontrollierter Stress, das ist gut. Aber wenn einem vom Stress die Kehle austrocknet…» Was hilft dann? «Nicht an die Zukunft denken. Nicht an den vierten Akt. Nur auf den Moment konzentrieren!»

Als wir dann noch über die Entwicklung der Darstellungskunst in den letzten Jahrzehnten sprechen, verstehe ich ein Wort nicht. Sie lacht schallend, eine ganze Oktave hindurch. «Regietheater!», ruft sie. «Immer, wenn ich mal ein deutsches Wort benutze, sagen die Leute: What?» Sie hält grosse Stücke aufs Regietheater, «wenn der Regisseur eine Idee zum Stück hat, so wie Barrie.» Aber konventionelle Spektakel mag sie auch. «Es ist immer gut, eine Balance zu haben. Generell. Auch zwischen Theater und Leben.» Das ist jetzt besonders einfach für Elena Stikhina, denn vor einem Jahr ist sie nach Zürich gezogen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 118 der Oper Zürich, Januar 2025. Manon Lescaut hat am 9. Februar 2025 Premiere, dirigiert von Marco Armiliato und inszeniert von Barrie Kosky. Das Bühnenbild schuf Rufus Didwiszus. Foto: Ksenia Paris

23. Dezember 2024

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Sie ist neben Astrid Lindgren wohl eine der beliebtesten Autorinnen von Büchern für alle Generationen, und dazu noch Zeichnerin: Judith Kerrs erstes Bilderbuch “The Tiger Who Came to Tea” (1968) machte sie im UK bis heute fast noch berühmter als das Buch “When Hitler Stole Pink Rabbit”, “Als Hitler das rosa Kaninchen stahl” (1971). Noch vor dem Kaninchen brachte Judy (wie sie von ihren Eltern Julia und Alfred Kerr und ihrem Bruder Michael genannt wurde) die Bilderbuchkatze Mog auf den Weg, von der oben ein bisschen was zu sehen ist. Die Dame links im Screenshot ist die Autorin im Alter von 92 Jahren.

Sie trat selbst kurz auf im Weihnachtswerbefilm des Supermarkts Salebury´s, der nach einer Geschichte von ihr gedreht und animiert wurde: Mog´s Christmas Calamity. Mogs Weihnachtsnöte von 2015 wurden auf Youtube bis heute 43 Millionen Mal gesehen. Der Plot in Kürze: Zuerst geht alles sehr schief, dann geht alles sehr gut. Ich selbst entdeckte diesen Kurzfilm erst jetzt, sozusagen als Beifang von Recherchen zur Mutter von Judith, Julia Kerr, die als Komponistin im Exil verstummte. Gar nicht wenig über sie erfährt man in den drei autobiografischen Romanen ihrer Tochter – dem “Kaninchen” folgten noch “Warten, bis der Frieden kommt” und “Eine Art Familientreffen” (im Original “The Other Way Round” und “A Small Person Far Away”).

Alle drei Bücher sind aus der Perspektive von Anna geschrieben, die zu Beginn des ersten Romans neun Jahre alt ist und im dritten Roman als 33-jährige die Stadt wiedersieht, aus der ihre Familie vor den Nazis floh – Berlin. Die Art der Wahrnehmung, auch die Sprache wandelt sich mit jedem Buch, und doch ist es immer unverwechselbar Judith Kerr, die da erzählt – in dritter Person -, sehr plastisch, mit einer sanften Wärme des Tons, die Trauer, Verzweiflung und gelegentlichen Sarkasmus nicht ausschließt, nichts beschönigt und nichts beschweigt.

Das alles ohne einen Hauch Didaktik einerseits und angestrengte Literarizität andererseits, unauffällig gut komponiert, kurz: so gut, dass es mich erstaunt, Judith Kerr in der hannoverschen Unibibliothek nur im “Fachbereich Erziehungswissenschaften” zu finden und nicht bei der Literatur, bei den “richtigen” Autoren, von denen sehr viele nicht annähernd so viel Klarheit, Persönlichkeit und Welt verbinden wie sie, die als “Kinder- und Jugendbuchautorin” rubriziert wird.

Kerrs “Eine Art Familientreffen” ist eines meiner drei Bücher dieses Jahres, nämlich solche, bei denen ich bedauerte, dass sie nicht noch mindestens 50 Seiten länger sind (auch wenn sie so genau richtig sind). Und die anderen beiden? Ein Solitär der (nicht nur) italienischen Literatur ist Beppe Fenoglios “Eine Privatsache” (“Una questione privata”, 1963), eine Erzählung von Liebe und Krieg im Italien des Jahres 1943, zuletzt bei Wagenbach erschienen, wimmelnd von Druck- und Satzfehlern, dafür mit einem exzellenten Nachwort von Francesca Melandri.

Eines der besten Bücher zum Thema Exil ist “Hölle und Paradies” von Bettina Baltschev, “Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur”. Das klingt etwas nach Dissertationsthema, ist aber eine so eingehende wie persönliche Spurensuche, die das Amsterdam von 1933 bis nach 1940 mit dem von heute verbindet. Präzise, klug, ruhig geschrieben, mit dezenter Emphase, voller Entdeckungen. Man möchte gleich losfahren zur Keizersgracht 333, wo Emanuel Querido so vieles verlegte, was in Deutschland verboten war. Das Buch erschien zuerst 2016 bei Berenberg und wurde 2024 neu aufgelegt.

Noch etwas Musik zum Jahresende: Für das Magazin der Elbphilharmonie ging ich dem Thema “Spielen” nach, von der Improvisation bis zur Aleatorik, von der »freyen Fantasie« bis zum Toy Piano. Passend zum Thema verlinke ich hier auf eine der wunderbaren Impros von Markus Becker, die “Butterfahrt“. Und als Rausschmeißer für heute noch die unüberbietbar krasseste und schrillste Interpretation der Habanera aus “Carmen”… gefunden im jüngsten VAN.