Die vielen Wunder der Freiheit

Wo die Musik spielt, da wird auch mit Musik gespielt. Ein Streifzug von der Improvisation bis zur Aleatorik, von der »freyen Fantasie« bis zum Toy Piano

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Ein Kinderspiel, dieser Anfang, was die Technik betrifft. C-Moll, gebrochener Akkord, unisono in rechter und linker Hand, mit Fis und As gewürzt. Was wird er damit machen, werden sich die Hörer in der Mehlgrube gefragt haben, dem ehemaligen Ballsaal, in dem Mozart auftrat, 29-jähriger Star der Wiener Szene. Er wusste es ja selbst nicht. Er improvisierte, sehr frei. Später machte er ein Stück daraus. Er kommt über Des-Dur und es-Moll verblüffend nach H-Dur, immer mit dem ersten, einfachen Bogen von sieben Tönen, bald von Akkorden sanft begleitet. Rhythmisch ändert sich nichts, aber auf einmal, f-Moll, ist es, als sei man zu weit hinausgeschwommen, das Wasser wird kühl, dunkel, man könnte Angst bekommen, wäre man nicht sicher, dass er da herausfindet. Es muss unfassbar spannend gewesen sein, Mozart beim Spielen am Pianoforte zuzuhören, beim Spiel ohne Grenzen. Beim Improvisieren.

Spiel! Zu dem Begriff findet sich mit 39 Spalten einer der längsten Einträge in Grimms Wörterbuch. Etymologisch geht er auf Bewegung, Tanz zurück, ist also schon lange mit Musik verbunden. Ein Instrument wird gespielt (in sehr vielen Sprachen übrigens, von Russisch bis Arabisch, Hebräisch bis Japanisch), ein Stück, und auch da, wo es notiert ist, lassen die Noten Spielraum. Verzierungen und Kadenzen von Barock bis Klassik werden idealerweise improvisiert, wofür es wiederum Regeln, Übungen, Anweisungen gibt, und mit dem Erscheinen virtuoser Solisten wird die Improvisation ganzer Stücke im Konzert so häufig, wie sie heute – außerhalb des Jazz – selten ist. Aber auch beim Komponieren wird gespielt, sogar in der Moderne. Und dass Spielen eine abgründige Sache ist, wusste nicht erst der Erlkönig: »Gar schöne Spiele spiel ich mit dir …«

Ein Knochen mit drei Löchern

Um mal so weit zurückzugehen wie möglich: Vielleicht war schon der Anfang der Musik im wahrsten Sinne ein Kinderspiel. Irgendwer muss ja vor 35.000 Jahren, als neben Menschen wie uns, also dem homo sapiens, noch Neandertaler lebten, herausgefunden haben, dass ein hohler Knochen Töne hervorbringen kann. Welcher Erwachsene hebt schon irgendein Ding auf und pustet hinein? Denken wir uns ein Steinzeitkind in der Gegend, die später Schwäbische Alb genannt wird und wo man in den 1990ern Bruchstücke einer Flöte fand, die aus den Knochen eines Singschwans gefertigt wurde, mit drei Grifflöchern. Aus der Entdeckung einer schwingenden Luftsäule war ein Instrument geworden. Von da an, spätestens, wurde gespielt, und zwar bis etwa zur Zeit der Pharaonen ohne schriftliche Fixierung von Klängen. 30.000 Jahre nur Improvisation!

Und Überlieferung natürlich. Wer improvisiert, greift immer auch auf Muster, Wendungen, Konventionen zurück, zum einen, weil sie gelernt und vertraut sind; zum anderen ist ihr Einsatz eine Grundlage der Kommunikation. Auch Mozart hat beim Fantasieren nicht sein Vokabular verlassen, nur den Formzwang einer Sonate. Wir wissen natürlich nicht, wie viel von dem, was er unter dem Datum vom 20. Mai 1785 als »Eine Phantasie für das klavier allein« in sein »Verzeichnüss« eintrug, ihm schon im März auf dem Podium der Mehlgrube eingefallen war oder auch später bei einem Privatauftritt. Er arbeitete sehr genau an allem, was in den Druck ging. Aber näher können wir dem in jedem Sinne spielenden, formal ungebundenen Mozart nicht kommen als gerade in dieser Fantasie. Ihre harmonische Exzentrik dient »der Expression seelischer Ausnahmezustände«, wie Ulrich Konrad findet, der wohl beste Kenner von Mozarts Werkstatt.

Ganz nah kam Mozart am 12. Mai 1789 ein betagter Leipziger Geiger, von dem Mozarts Zeitgenosse Friedrich Rochlitz erzählt: »Am Abende seines öffentlichen Concerts in Leipzig nahm Mozart den alten Violinisten [Carl Gottlieb, Anm.] Berger bei Seite und sagte zu ihm: ›Kommen Sie mit mir, guter Berger! Ich will Ihnen noch ein Weilchen vorspielen. Sie verstehen’s ja doch besser, als die Meisten, die mir heute applaudirt haben.‹ Nun nahm er ihn mit sich, und phantasirte nach einem kurzen Mahle vor ihm bis Mitternacht, worauf er dann nach seiner Weise rasch aufsprang und rief: ›Nun, Papa, habe ich’s recht gemacht? Jetzt haben Sie erst Mozart gehört. Das Uebrige können Andere auch.‹« Daraus wird ziemlich deutlich, dass für Mozart das Fantasieren alles andere als nebensächlich war.

Verblüffend ist die Parallele zu dem von ihm bewunderten Carl Philipp Emmanuel Bach, der 1772, ebenfalls nach dem Abendessen, in Hamburg stundenlang für seinen Besucher, den Musikhistoriker Charles Burney, am Clavichord improvisierte. »Während dieser Zeit geriet er dergestalt in Feuer und wahre Begeisterung, dass er nicht nur spielte, sondern die Miene eines außer sich Entzückten bekam.« Das ganze Schlusskapitel von CPE’s »Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen« handelt »Von der freyen Fantasie«. Ähnlich exzessiv und faszinierend wie er hat auch Friedemann, sein um vier Jahre älterer Bruder, fantasiert – und beide lernten das »Extemporieren« schon als Kinder, so wie nach ihnen Mozart. Es wurde im 18. Jahrhundert von professionellen Tastenspielern sogar erwartet, dass sie ganze Fugen improvisierten.

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Spätestens jetzt muss natürlich die Legende erzählt oder vielmehr bestätigt werden, die Johann Nikolaus Forkel überliefert hat. Friedrich der Große hat anno 1747 den Thomaskantor zu einem Besuch in Potsdam ermuntert und dort dem 62-Jährigen ein selbst geschriebenes Thema überreicht, über das der zuerst eine Fuge improvisierte, um, zurück in Leipzig, sein elfteiliges, grandioses »Musikalisches Opfer« daraus zu komponieren. In dem wiederum auch improvisiert werden muss, wie überall da, wo in barocker Zeit ein Generalbass notiert ist, ein basso continuo – in diesem Fall in der Triosonate des »Opfers«. Der Cembalist hat ja nicht Akkorde vor sich, sondern nur Basstöne mit kleinen Zahlen, die deren Funktion bezeichnen (ob es der unterste Ton eines Sextakkords ist, eines Quintsextakkords …), und die offen lassen, in welcher Weise diese Harmonien gespielt, arpeggiert, verbunden werden. Noch 1911 forderte der Leipziger Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar, es müsse »ins Aussetzen der Bässe wieder die alte Freiheit und Leichtigkeit kommen, wir müssen es wieder zum Improvisieren auch bei schwierigen Vorlagen bringen.«

Heute sind wir sehr viel weiter. Als die Wiederentdeckung der Musik Johann Sebastian Bachs auch das Interesse an der Musik der Jahrhunderte zuvor geweckt hatte, kam ein Kontinent ans Licht, auf dem es von Spielräumen und Freiheiten nur so wimmelt, von Herausforderungen. Schon früh wurde von Sängern erwartet, dass sie zu einer Linie eine oder mehrere kontrapunktische Gegenlinien improvisierten. 1573 gibt ein italienisches Lehrwerk Tipps für spontane zweistimmige Kanons über einem Cantus firmus. Parallel dazu floriert die Ornamentierung. Wer zwei halbe Noten zu singen oder zu spielen hat, macht Bögen aus acht Achteln daraus, oder kleinteilige Rhythmen, in polyphonen Werken natürlich mit Rücksicht auf die weiteren Stimmen. Hätte jemand den Sängern an einem Fürstenhof wie Ferrara gesagt: »Singt doch, was da steht«, hätten sie ihn mit Recht für einen Ignoranten gehalten.

Flamboyant und fancy

Die neue Emotionalität ab 1600 wurde im Gesang mit Verzierungen unterstrichen, mit passaggi, deren berühmtestes Beispiel keinem Lehrwerk entstammt, sondern der ersten Oper. Claudio Monteverdi lässt 1607 seinen Orfeo vor Caronte singen, dem Fährmann in die Unterwelt, und notiert für den Solisten genauestens, was sonst improvisiert wurde, die flamboyanten Tonrepetionen und Wechselnoten, mit denen Orfeo den possente spirito, den »mächtigen Geist« beeindrucken will. Doch sonst kommt man auch bei Monteverdi als Interpret nicht weit, wenn man die Verzierungstechniken der Zeit nicht kennt, besser noch, sie so verinnerlicht hat wie schon seit Jahrzehnten die Profis der historischen Aufführungspraxis. Wenn gute Zinkenbläser in der »Marienvesper« loslegen, ist man vom Jazz nicht mehr weit entfernt.

Schon im 17. Jahrhundert war es auch üblich, aus einem Thema ein ganzes Stück zu fantasieren. In England tritt der Sammelbegriff für improvisierte wie komponierte Freiheiten sogar variiert auf: Von Fantassie über fantazia und fansye bis zum gebräuchlichsten, fancy. Einer der Stars dieser Kunst war ein Import aus Lübeck, der Geiger Thomas Baltzer. Am 4. März 1656 schrieb John Evelyn, englischer Landedelmann, Autor, Europareisender, Politiker, nachts in London in sein Tagebuch: »Ich war eingeladen, um den unvergleichlichen Thomas Baltzer auf der Geige zu hören. Der Einfallsreichtum, zu dessen Anregung ihm wenige Noten genügen, war bewundernswert.«

 Neue Spielregeln

All diese Facetten, der Austausch zwischen Komposition und Improvisation, die Spielräume oder Notwendigkeiten für den Eigensinn von Musikern, sind im 20. Jahrhundert erst mal auseinanderdividiert worden. Man erkundete und erlernte aufs Neue »die alte Freiheit und Leichtigkeit« im Generalbass, während die zeitgenössischen Komponisten längst nicht nur jede Note festlegten, sondern auch Vortragsnuancen. Das Improvisieren wanderte ab in den Jazz und die Alte Musik. Ausbrüche wie der aus der alten Tonalität wurden systematisiert oder, netter gesagt, mit Spielregeln versehen wie denen, die Arnold Schönberg für das »Komponieren mit zwölf aufeinander bezogenen Tönen« ersann, nachdem sein jüngerer Wiener Kollege Joseph Matthias Hauer die zwölf Halbtöne der Oktave in 44 Sechsergruppen gebändigt hatte. Diese »Tropen« wurden die Grundlage von »Zwölftonspielen«, mit denen es Hauer kosmisch ernst war: Die Musik – rund 1000 Stücke entstanden – generiert sich nach bestimmten Regeln praktisch selbst und soll die Harmonie der Welt hörbar machen. Das Gegenteil jener Subjektivität also, die in Improvisationen zum Ausdruck kommt.

Das machte Hauer interessant für John Cage. Der Amerikaner wollte vom »making« zum »accepting« kommen – nichts ausdrücken und nicht Autor sein, sondern sich von den Tönen leiten lassen, von Tonvorräten, die vom Zufall, einer Sternenkarte oder sonst wie, nur nicht subjektiv bestimmt wurden. Weil er dabei auch ein sehr heiterer Mensch war, verdanken wir ihm das erste Stück für ein Spielzeug (von einer „Berchtoldsgaden Musick“ abgesehen, in der um 1765 Kinderinstrumente zum Einsatz kommen) – die »Suite for Toy Piano« (1948), ein Spielzeugklavier mit neun Tönen und aufgemalten schwarzen Tasten. Die denkbar größte Freiheit der Spieler erreichte Cage zehn Jahre später in seinem »Concert for Piano and Orchestra«: Noten auf losen Blättern, die in beliebiger Reihenfolge gespielt werden können. Fast alles ist dem Zufall überlassen.

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Die unfixierbare Komplexität, die dabei herauskommt, war eine Offenbarung für den polnischen Komponisten Witold Lutosławski, als er diese Musik im Radio hörte. Er sah im Zufall eine Technik und zähmte ihn. In seinem Streichquartett (1964) stehen in der Partitur nicht mehr nur vier Stimmen übereinander, sondern immer wieder vier Kästen. Jeder enthält ein Solo. Festgelegt ist, wer wann beginnt – und dass alle so lange spielen, bis, zum Beispiel, die erste Geige die nächste Abteilung erreicht hat. Ein großer Bogen entsteht in diesem Werk, aber es fällt doch auf, dass spielerische Freiheit immer im Kleinen beginnt, im Freiraum einer Kadenz, mit nur einem Motiv wie bei Mozart, der dann einen Abschnitt aus dem anderen entwickelt, mit Lutosławskis Kästchen, den losen Blättern von Cage …

Sogar ein Kontrollfreak wie der amerikanische Komponist Elliott Carter hat auch gern mal mit losen Blättern begonnen, wie er es dem Autor 2008 erzählte, kurz vor seinem hundertsten Geburtstag. »In den ›Night Fantasies‹ [1980, Anm.] schrieb ich einfach jede Menge kleiner Fragmente, die ich für das Klavier interessant fand, und die einem bestimmten harmonischen System folgten. Davon hatte ich dann 20 oder 30. Ich war damals in Rom und klebte sie an die Wand, guckte mir das an, bis ich wusste, wie es zusammenpassen könnte. Zuerst also kleine Versuche, um rauszufinden, was ich wollte.« Dieses Verfahren setzte Carter bei einem seiner großartigsten Werke fort, der »Partita« für Orchester (1993). »Es waren kleine Teile, die zusammengefügt wurden. Wie ein Spiel. Darum nannte ich es Partita. In Italien heißt ein Fußballspiel partita. It has a playful aspect!«

Einfach mal ausprobieren

Es war eine Komponistin, die wieder zum Spielen im einfachsten Sinne kam, zum Ausprobieren unvertrauter Klangerzeuger, ein bisschen wie unser Steinzeitkind mit dem hohlen Knochen. Sofia Gubaidulina, die sich in der Sowjetunion als Filmkomponistin durchschlug, erkundete in den 1970ern mit Kollegen den Klang von Ritualinstrumenten aus Russland, dem Kaukasus, Asiens, des Orients. In der Gruppe Astrea improvisierte man gemeinsam. »Wir beherrschten diese Instrumente nicht, wir berührten sie. Es war eher ein geistiges Gespräch.« Erfahrungen aus dieser »ungeschriebenen Musik« voller Mikrointervalle und voller Spiritualität brachten sie auf den Weg zu ihrem Durchbruchswerk, dem »Offertorium«, jenem überwältigend schönen Violinkonzert, das Gubaidulina 1980 für Gidon Kremer schrieb.

Womit wir, Überraschung, Fernpass, Verwandlung, wieder bei Wolfgang Amadeus Mozart wären, der im Mai 1785 aus seiner Improvisation in der Mehlgrube die Fantasie in c-Moll macht. Die tatarische Komponistin hat ihr Konzert »Offertorium«, »Opfer«, aus jenem Thema entfaltet, über das Bach in Potsdam improvisierte und aus dem dann sein »Musikalisches Opfer« wurde. C‘, es‘, g‘, as‘, h, so fängt das an. Jetzt bringen wir mal Bewegung in diese statischen Töne. Die ersten beiden punktiert verbunden, dann vor das g ein fis und vor das h ein c … Mozart spielt mit Bachs Königsthema! »Das kann kein Zufall sein«, meinte der Pianist András Schiff, als er beide Werke im Konzert verband, Bachs »Opfer« und Mozarts »Fantasie«. Nein, kein Zufall, auch kein Wunder, Mozart war zu der Zeit schon mit vielem aus der Bachfamilie vertraut. Aber ein Wunder ist es eben doch. Eines von den vielen, die sich der Freiheit des Spielens verdanken.

Dieser Text erschien im Magazin der Elbphilharmonie I / 2025, “Spielen”, im Dezember 2024 (S. 22-26) und ist urheberrechtlich geschützt. Illustrationen: Beginn der c-Moll-Fantasie KV 475 von W.A.Mozart; Beginn des “Musikalischen Opfers” von J.S.Bach, Originaldruck zwischen 1740 und 1759, Staatsbibliothek zu Berlin; John Cage beim Präparieren eines Klaviers, in literaturundkunst.net

 

Echos auf “Flammen”

Eine Auswahl ab April 2022, chronologisch absteigend

>Opernwelt, Jahrbuch 2022, Kritikerumfrage, Oktober 2022 Buch des Jahres
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ZEIT online Podcast: Und was machst du am Wochenende?, 16.9.2022

…es geht um diese glühende Zeit, geschrieben von einem ganz außergewöhnlichen Musikjournalisten, ein so bemerkenswert gut geschriebenes, tolles Buch…(Igor Levit)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.9.2022

Temporeich, streckenweise brillant geschrieben und mit sichtlicher Freude am Detail recherchiert …
(…)
Die formale Gleichzeitigkeit und die Engführung mit Politik und Zeitgeschichte zwingen Heterogenes zusammen, die rasante Urbanisierung etwa und die gleichzeitige Vorliebe für Märchenopern – schon das kann ja erhellend sein. Sie schafft aber auch Raum für überraschende Ausblicke und Verschränkungen: Gustav Mahler unternimmt einen “analytischen Spaziergang” mit Sigmund Freud; die englische Komponistin und Generalmajorstochter Ethel Smyth ist zugleich glühende Frauenrechtlerin; die berühmten Skandalkonzerte in Wien und Paris sind ein Gradmesser der Erregung auch im politischen Raum.
(…)
Im Falle Debussys gelingt Hagedorn ein subtiles Porträt des von privaten Sorgen und Geldnöten umstellten Komponisten, der von jungen “Ultramodernisten” aufs Schild gehoben wird, aber ängstlich um seine Unabhängigkeit bemüht bleibt. (…) Ethel Smyth, europaweit bis in höchste Kreise vernetzt, verbürgt als komponierende Frau und politische Aktivistin einige besonders bewegte Episoden. (…) Proben und Aufführung von Mahlers achter Symphonie, vierhändige Durchspielprobe des “Sacre du printemps” bei Laloy – solche Szenen sind Anlass für kleine Kabinettstückchen der Kunst, in wenigen Worten den richtigen Ton zu treffen und Präsenzeffekte zu erzielen (…) (Andreas Meyer)
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Kreuzer Leipzig, September 2022

„Flammen“ schildert die Jahre des Aufbruchs der Moderne, neuer Strömungen, kultureller Blüte und eines europaweiten künstlerischen Austausches, bevor es gegen Ende auf den Kriegsausbruch in Europa 1914 zusteuert. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung von »Flammen fällt 2022 zusammen mit gegenwärtigen Kriegsereignissen und europaweiten Spannungen, was der Lektüre eine ungeheure Brisanz verleiht. (…)
Fast romanhaft liest sich die Reise in eine sich nicht nur an musikalischen Neuerungen überschlagende Zeit. Die erstaunlichen Begegnungen seiner Protagonistinnen und Protagonisten beschreibt Hagedorn auf Grundlage eindrucksvoll detaillierter Recherchen. Alle Entwicklungen und Anekdoten sind eingebettet in ein Netz aus sozialen Strukturen, politischen Gegebenheiten und Kunstfragen. Ein Buch, das man, einmal begonnen, nicht wieder aus der Hand legen wird. (…)
Es ist seine eigene, von tiefem Musikverständnis geprägte Stimme, mit der er poetisch und spannend über bedeutende Musikstücke jener Epoche wie Stravinskys Sacre, die Alpensinfonie von Strauss oder Debussys Violinsonate assoziiert. Der Kosmos an ästhetischen Möglichkeiten dieser Zeit wird aufgeblättert.(Anja Kleinmichel)
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Opernwelt, „Buch des Monats“, Juli 2022

… wenn es der Komponistin kurze Zeit später gelingt, zum Hofoperndirektor Mahler selbst vorzudringen (auch das ist bezeugt), wird dieser sie in Hagedorns Imagination genau bei der leer-triumphalen Apotheose abbrechen lassen. Hier und an vielen anderen Stellen zeigt sich, wie präzise sich Hagedorns detektivische Faktenjagd mit dem genauesten Studium von Charakteren, von deren Ästhetik und deren Idiosynkrasien zu einem dokufiktionalen Genre von hoher Stringenz verbinden. Faktenleidenschaft und Einbildungskraft beleben sich wechselseitig. (Klaus-Heinrich Kohrs)
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Tagesspiegel, 15.6.2022

Den Ersten Weltkrieg spart Hagedorn nicht aus, doch er begreift ihn nicht als absoluten Bezugspunkt und befreit so die Musik von der Lesart, vor allem „Angstblüten“ vor dem großen Kulturbruch getrieben zu haben. Für seine Erzählung hat sich der Autor zweier Hauptfiguren versichert. Die eine ist Debussy (…) Hagedorn zeichnet seinen melancholischen Helden mit großer Sympathie und schenkt ihm Momente zarter Innigkeit, vor allem mit der Tochter Chouchou, die ihren Vater nicht lange überleben wird. Die zweite Hauptfigur ist eine Überraschung, die sich aber ganz selbstverständlich in das große Panorama fügt: Die Britin Ethel Smyth (…) (Ulrich Amling)
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rbb Kultur, 10. 5. 2022

Wenn man´s erstmal angefangen hat, kann man´s kaum zur Seite legen. (Andreas Göbel)
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Leipziger Zeitung, 20. 4.2022

So geballt hat man das noch bei keinem Autor gelesen. Wohl auch deshalb, weil das nicht einmal die Musikwissenschaftler für so bemerkenswert hielten. Sie denken selten politisch und sehen deshalb nicht, wie selbst die Musik von den Kräften erzählt, die in einer Gesellschaft toben, die zwischen Nationalismus und Weltoffenheit, Moderne und Rückwärtsgewandtheit, kreativem Austausch und militärischen Eskalationsstrategien zerrissen ist. (…)
Volker Hagedorn hat auch eine faszinierende Begabung dafür, Geschichten zu erzählen und miteinander zu verknüpfen, sodass am Ende tatsächlich eine europäische Musikerzählung draus wird, wenn er einfach nur versucht zu erzählen, was einige der bis heute berühmten Komponisten und Komponistinnen der europäischen Musikavantgarde damals eigentlich so trieben. Jahr für Jahr. Schicksal um Schicksal, Szene um Szene, so farbenreich, als wäre der Autor als Journalist dabeigewesen und hätte alles emsig mitstenografiert – die Kleidung, die Gespräche, das Wetter, die Stimmung. Es knistert von Anfang an. (Ralf Julke)
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Deutschlandfunk Musikjournal, 18.4.2022

…so anschaulich, dass permanent eine Art Kopfkino entsteht…(Christoph Vratz)
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Die Deutsche Bühne, 15.4.2022

Mit seinem Untertitel „Eine europäische Musikerzählung 1900 – 1918“ weckt der Autor Volker Hagedorn Erwartungen. Und er löst sie ein. „Flammen“ ist wirklich eine – große! – Erzählung und handelt tatsächlich – auch – im engeren Sinne von Europa (wenn auch unter weitgehender Aussparung Italiens) . Und die Handlungsentwicklung wird ausgelöst durch Schicksale von Komponistinnen und Komponisten und ihre Musik, ihren endgültigen Aufbruch aus der Romantik. So entsteht ein episches, wirklich mitreißendes Panorama dieser Zeit zwischen Fin de Siècle und dem Ende des fürchterlichen Krieges. (…)
Dazu kommen etliche kenntnisreich, plastisch und vor allem leidenschaftlich beschriebene Musikstücke, die Schilderung politischer Prozesse, Exkurse in die bildende Kunst und die Literatur, in Stadtentwicklung und Wirtschaft und selbst in den Klatsch (…)
So zeigt der zudem klug illustrierte Dokumentarroman „Flammen“ eine glanzvolle, aber keine schöne Zeit. Fast wirkt der Krieg hier als folgerichtige Explosion auf eine Epoche der Maßlosigkeit einerseits und der aus dem 19. Jahrhundert mitgeschwommenen patriarchalischen Enge andererseits. Und eine Nähe zu unserer Zeit ist durchaus zu spüren (…) Ein großartiges Buch. (Andreas Falentin)

6. Dezember 2024

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Sogar bei Penny in Walsrode wurden die Kunden mit der lustigen Nachricht beschallt, unlustige Nachrichten sind im Marktradio logischerweise nicht zugelassen. Eigentlich hätte die muntere Sprecherin auch gleich auf die günstigen Bananenpreise in der Obstabteilung hinweisen können, als sie erklärte, dass in New York eine Banane für 6,2 Millionen Dollar den Besitzer gewechselt habe – eine Frucht, die am Tag der Auktion für 35 Cent erworben worden war, um dann bei Sotheby’s mit Klebeband an einer weißen Fläche befestigt zu werden… Eine Menge Leute haben zu diesem Ereignis ihren Senf dazugegeben, ich auch. Allerdings keinen lachshäppchentauglichen Honigsenf. Nachzulesen auf VAN, illustriert – siehe oben – von Merle Krafeld.

Am Tag der US-Präsidentschaftswahlen saß ich in Zürich mit einem Amerikaner zusammen, der auch die italienische Staatsangehörigkeit hat, mit seinen Söhnen in Berlin lebt und in Zürich als Politiker auftritt – genauer, als Riccardo in Verdis Oper Un ballo in maschera. Charles Castronovo kennt die USA von vielen Seiten – aus seiner Kindheit in einem lebensgefährlichen Vorort von Los Angeles ebenso wie von der Bühne der Metropolitan Opera aus gesehen. Eigentlich wollte er Rockstar werden, aber “die Stimme war zu sauber.” Plácido Domingo hat ihn dann zu der Erkenntnis gebracht, dass Oper der Rock´n Roll der Klassik ist. So ging das los… Am Sonntag hat Ein Maskenball Premiere in Zürich.