“It was so… booaah… you know?”

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Charles Castronovo kam als Einwandererkind in New York zur Welt, inzwischen ist er einer der Stars der MET – und lebt in Berlin. Wir treffen uns in Zürich, wo er als Riccardo in Verdis “Maskenball” gastiert.

Es ist die alte Geschichte, “vorrei e non vorrei”, halb will sie und halb nicht. Aber es ist komplexer, Riccardo ist nicht Don Giovanni. Er ist egoistisch, doch sensibel er auch. Er und Amelia, Gemahlin seines Freundes und Sekretärs, kennen sich schon länger, und die Lage ist ohnehin brisant, man will ihm, dem Politiker, ans Leben… Den ganzen Vormittag wird an diesem Duett geprobt, wohl Verdis größtes Liebesduett überhaupt, das mit Amelias „Si, t´amo“ noch nicht endet. Millimeterarbeit am kleinen Kuss, den die Regisseurin Adele Thomas sich wünscht, immer wieder auf die Probebühne springend, zeigend, wie sie sich Amelias Ambivalenz in ihrer Haltung ausdrücken könnte, wie weit Riccardo seinen Zylinder von sich werfen könnte, wenn er ihr ganz nah ist…

Dieser Riccardo ist eins mit seinen Tönen. Sie scheinen seine Schritte wie seine Blicke zu lenken. Der sanfte Sechsachteltakt, in dem er, „Non sai tu…weisst du nicht…“, von seiner Zerrissenheit singt, wie sollte sie dem widerstehen? Mal abgesehen davon, dass er aussieht wie der perfekte Liebhaber. „Stoß ihn weg“, sagt die Regisseurin, „aber nicht zu heftig…“ Und was denkt sich der, der hier alles aufs Spiel setzt? „Sorry that this happened…but…come on!“ So fasst Charles Castronovo beim Proben Riccardos obsessiven Leichtsinn zusammen, den er in jeder Geste, in der ganzen Haltung realisiert, gerade so, wie das von Verdi komponiert ist. Vor kahlen Holzwänden agieren die Sänger, statt des Orchesters spielt eine Pianistin, man macht Witze, aber die Luft knistert.

„Riccardo is a tricky charakter“, meint der 49-jährige nach der Probe. „Nicht die sympathischste aller Rollen, aber musikalisch unbeschreiblich. Es ist nicht leicht, auf seiner Seite zu sein, auch wenn er am Ende, wenn er stirbt, aufrichtig sagt, dass Amelia treu blieb. Aber sie haben einander ja ihre Liebe gestanden!“ Was Charles Castronovo, der die Rolle schon in München und an der MET sang, ein bisschen unfair findet, ist etwas anderes: „Man singt so viel und technisch anspruchsvoll, und am Ende kriegt man nicht so viel Applaus wie für andere Rollen. Cavaradossi in Tosca hat 35 Minuten zu singen, ein symphatischer Charakter, der getötet wird – und die Leute drehen durch! Riccardo, das sind 80 Minuten, und schwieriger. Und da heißt es dann nur ,Bravo, good job‘…“

Er lacht, so ist das nun mal. Er hat mehr als genug andere Rollen. Aber auch der Riccardo steht auf einer Liste, die Charles vor bald drei Jahrzehnten anfertigte, noch in Kalifornien, „die liegt jetzt irgendwo in einer Kiste. Alle Rollen, die ich in meiner Karriere singen wollte, dazu das Alter, in dem ich das wohl tun würde.“ Diese Daten habe er mit „weird math“ ermittelt, einer etwas kühnen Statistik, die seinem brennenden Interesse an Sängerbiographien folgte, Tenöre natürlich. „Am Ende jeder Biographie, sei es Bergonzi, Corelli, Gedda, steht, wann sie ihre Rollendebüts hatten. Der erste Nemorino, der erste Cavaradossi… Das schrieb ich mir auf und guckte, wo ich hinpasse. Franco Corelli zum Beispiel sang Cavaradossi zuerst mit, sagen wir mal, 30, ich habe aber eine viel leichtere Stimme, also: 40! Einiges auf der Liste traf ich, einiges kam später.“

Castronovos Obsession mit der Geschichte seiner Vorgänger, der lyrischen Tenöre mit Tendenz zum Dramatischen, hat viel zu tun mit seinem Weg zur Oper, der ziemlich amerikanisch verlief. Eigentlich muss man sogar zurückgehen bis zu Charles´ sizilianischem Großvater. „Der sagte immer, wie kommt es nur, dass wir keinen Sänger in der Familie haben? Naja, wenn Sie hören würden, wie der sizilianische Teil meiner Familie spricht…“ Er gibt rauhe, röchelnde Laute von sich. „Es klingt wie ein Mafiafilm. Da kann keiner singen. Und auf Seiten meiner Mutter, in Ecuador, da wissen sie, wie man tanzt, aber es gibt keine Musiker.“ Die Einwandererkinder verliebten sich blutjung in New York. Charles´ Mutter war 19 Jahre alt, als er in Queens zur Welt kam. Dann zog man um an den Rand von Los Angeles. Der junge Vater belud mit dem Gabelstapler die LKW, die Kalifornien mit Lebensmitteln versorgten, und der einzige Fetzen Oper, den sein Junge hörte, ohne es zu wissen, war eine Arie aus Rossinis Barbiere, dirigiert vom Fernsehhasen Bugs Bunny.

Charles sang gut und gern, liebte die Beatles und Led Zeppelin und wollte Rockstar werden. Die Band hatte er bald und eine Gitarre, „aber ich hatte nicht diesen Sound für Rock, die Stimme war zu sauber.“ Die war aber im Schulchor willkommen, er durfte da auch Soli singen. Dann gab ihm der Vater eines Freundes, aus Bologna eingewandert, Opernfan, ein paar CDs. Er hörte den Anfang von Otello. „Evviva, evviva, babababaa, babababaa“, er singt die Takte vor Otellos Einsatz, „I couldn´t believe it, it was so… booaah… you know?“ Und dann: Plácido Domingo. „I heard it, I felt it and I said, that´s what I will do.“ Für ihn war das der Rock´n´Roll der Klassik.

„Da war ich sechzehn. Von der Highschool ging ich dann an die Uni und studierte Gesang.“ Es hielt ihn da nicht lange. Bis auf zwei, drei ältere Gleichgesinnte war er an der California State University allein mit seiner Besessenheit, dauernd Opern zu hören, Klavierauszüge zu lesen und über Sänger zu reden. „Und ich wollte auf der Bühne sein!“ Nach einem Jahr Studium sang er für den Opernchor in Los Angeles vor, das ging gut, und da entdeckte man ihn für kleinere Rollen. „Meine erste war Baron Rouvel in Giordanos Oper Fedora. Raten Sie, wer die Hauptrolle sang. Domingo!“ Wie ein Schwamm, sagt er, habe er zwei Jahre lang alles aufgesogen, was er von all den großen Kollegen auf der Bühne der Los Angeles Opera lernen konnte. „Es war eine tolle Zeit, und ich bekam Geld, genug für mich mit 23, 24 Jahren. Am Ende hatte ich hundert Vorstellungen gehabt!“

Danach kreuzten sich in New York zwei junge Sängerlaufbahnen. Wie Charles Castronovo ist auch Eric Cutler ins Förderprogramm der MET aufgenommen worden, etwa gleichaltrig, auch er das Kind von „ganz normalen Leuten“, für die Oper so weit weg wie der Nordpol war. „Verrückt, und nun singen wir als Tenöre rund um die Welt!“ Charles´ Basis wurde bald Europa. 90 Prozent seiner Auftritte finden hier statt, und in Berlin kaufte er schon vor achtzehn Jahren eine Wohnung, „als das fast nichts kostete. Seit sieben Jahren lebe ich da full time, und ich bin froh, dass meine beiden Söhne in Deutschland aufwachsen, sie sind elf und siebzehn. Ich will nicht dramatisch werden, aber als ich sieben Jahre alt war – wir lebten nicht in der besten Gegend von Los Angeles – sah ich, wie auf einen Jungen drei Meter von mir entfernt geschossen wurde. Ein Vierzehnjähriger, wir hatten gerade mit dem gesprochen. Ich erinnere mich daran wie an einen Film.“

Und das Amerika von heute? Es ist der Tag der Präsidentschaftswahl, an dem wir in Zürich zusammensitzen. Noch ist alles offen. „Ich liebe mein Land, aber ich muss sagen, dass ich in den letzten Jahren kein gutes Gefühl hatte, was den Zustand dieses Landes betrifft.“ Er sagt noch viel mehr dazu, nicht weniger leidenschaftlich, als wenn er über die Helden seiner Zunft spricht, über den jungen Carreras, über Giuseppe di Stefano, über Pavarotti, dem er dankbar ist, dass er als Riccardo beim gemeinsamen hohen C am Ende des Duetts mit Amelia auch mal einbrach. „Wenn sogar der König der hohen Cs Fehler macht… Ich brauche nicht perfekt zu sein. Verdi hat dieses C nicht geschrieben, und ich habe es in der Metropolitan nach vier Vorstellungen weggelassen.“

Ja, die Wahlen. Auch in der Zürcher Inszenierung von Un ballo in maschera wird gewählt. „Governor of Boston“ steht auf den Flyern mit Riccardos Porträt, die auf der Probebühne verstreut liegen. Charles Castronovo greift sich einen, als er auf Erika Grimaldi zugeht, auf Amelia, hält ihn mit beiden Händen vor sich und zerreißt ihn. Es wirkt völlig spontan, und vieles steckt darin. Das Zerreissen einer Karriere, eines Kleides, einer Konvention. „Di che m‘amo!“ „Im Konzert singe ich nie so gut wie auf der Bühne“, hat er nach der Probe gestanden. „Ich brauche die Bewegung, die Reaktionen. I prefer to act on stage!“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien in kürzerer Fassung im MAG 117 der Oper Zürich, November 2024. “Un ballo in maschera” hat am 8. Dezember 2024 Premiere in der Inszenierung von Adele Thomas, musikalisch geleitet von Gianandrea Noseda. Das Probenfoto von Toni Suter zeigt Erika Grimaldi (Amelia) mit Charles Castronovo (Riccardo).

15. November 2024

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Sopranistin Esther Tschimpke singt “Meine Freundin, du bist schön” von Johann Christoph Bach (1642-1703) -  ein Screenshot aus dem Trailer, der am 23. Juni 2023 in der Elisabethkirche Langenhagen entstand. Das ist schon eine Weile her und erst recht ein Grund, es aufzurufen. Denn die Produktion mit Voktett Hannover und Concerto Ispirato, die die von mir gelesenen Passagen aus Bachs Welt musikalisch wahr machten, war viel zu gut, als dass man nicht für ein Reload Reklame machen müsste. Ganz dasselbe gilt für ein eng verwandtes, aber weiter gefasstes Projekt des Freiburger Ensemble Context. Von November 2021 bis Juli 2022 führte die vierteilige Serie “Bachs Welt” nach und nach aus den Lockdown-Restriktionen hinaus. “Krieg und Frieden”, “Hochzeit in Ohrdruf”, “Pest in Erfurt” und “Bach bricht auf” heißen die rund 70minütigen Lesungskonzerte. “Es ist alles drin, was eine gute Serie bieten muss”, schwärmte die Badische Zeitung, “ein Clan, Leidenschaft, Zeitgeschichte, Sex and Crime.”

And now for something quite different: Ausnahmsweise trete ich nächstens nicht zusammen mit Musikern auf, sondern als Gast eines Seminars. Es war die Idee des in Leipzig lebenden Komponisten Bernd Franke, den Autor ins Musikwissenschaftliche Institut der Universität Leipzig einzuladen, um über die Entstehung und Konzeption von Flammen (2022) zu sprechen – und auch, um sich dazu befragen zu lassen. Die Veranstaltung ist natürlich öffentlich – das Buch Flammen ist ja keine Doktorarbeit! Auch wenn es genug Themen für ein Dutzend davon enthält. Ort: Neumarkt 9-19 (ehem. Städtisches Kaufhaus), Aufgang E, Hörsaal 302. Zeit: Dienstag, 19. November 2024, 15 Uhr. Von Leipzig ins nahe Halle: Dort traf ich die Pianistin Ragna Schirmer, die in der umjubelten Zürcher Ballettproduktion Clara die Solistin (im Graben) ist und mir nicht nur über Clara Schumann viel Spannendes erzählte. Nachzulesen im Porträt wie auch im VAN-Interview. Heute übrigens ist Cathy Marstons Choreographie zum (hoffentlich nur vorerst) letzten Mal in Zürich zu erleben!

31. Oktober 2024

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Flankiert von “Idioten”: Bo Skovhus (Mitte) ist “Ich” in der Zürcher Produktion von Alfred Schnittkes Oper Leben mit einem Idioten. Auf dem Probenfoto sind es deren gleich zwei, nämlich Matthew Newlin (links) und sein Double Campbell Caspary. Bariton Bo Skovhus hat mir in Zürich nicht nur von den Herausforderungen dieser Partitur erzählt, auch über seinen Weg von Dänemark nach Wien, über Schuberts Winterreise und ein Fax von Wolfgang Rihm… Nachzulesen und mit Audiolink versehen ist das im neuen VAN, in kürzerer Fassung im MAG der Oper Zürich und hier.

Eine besonders aufwändige Produktion in der Reihe “Interpretationen” ist nun wieder für ein Jahr online. Am 13. Oktober 2024 wurde zum zweiten Mal gesendet, was vor zwei Jahren entstand – eine Sendung über die 1913er Mallarmé-Vertonungen von Debussy und Ravel und ihre Interpreten. Auf der Website von Deutschlandradio Kultur gibt es, anders als früher, keine Informationen dazu, um so mehr ist in meinem Blog vom 1. November 2022 zu lesen. Die betreffenden vier Gedichte von Stéphane Mallarmé werden von Céline Grillon exemplarisch gut gelesen – nebst den Übersetzungen. In die ganz anderen Welten von Bach, Tarkowsky und Pasolini führt eine Kolumne, die ebenfalls schon 2022 für VAN entstand und nun auch auf dieser Website zu lesen ist: Schweben mit Bach. Alle Folgen von “Rausch & Räson” seit 2017 sind bei VAN hier zu finden.

Jetzt breche ich gleich mal auf nach Hildesheim, endlich wieder die h-Moll-Messe spielen! Bernhard Römer leitet die St.-Andreas-Kantorei, und ein erstrangiges Solistenquartett ist angereist. Alex Potter ist einer der besten Countertenöre, die ich je gehört habe. Klug und sensibel gestaltend auf allen Ebenen, blühender Ton, unendlich nuancenreich geformt – da macht es einen Bratscher sogar froh, dass er im “Agnus Dei” nur zuhören darf. Weitere Glücksbringer sind Kerstin Dietl (Sopran), Andreas Post (Tenor) und Matthias Vieweg (Bariton), und Ulla Bundies konzertmeistert das Bach-Collegium St. Andreas.