11. September 2013

>Vechta! Vor zehn Jahren war ich hier zuletzt, auf den Spuren von Rolf Dieter Brinkmann, für den „Dichteratlas“ der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Dass die Leute hier „hilfreich und freundlich“ sind, stimmt immer noch. Wo ich eine überregionale Zeitung kriege? „Das ist ein Problem in Vechta“, meint der Mann, der vorm Bäckerladen an der Bremer Straße eine geraucht hat, vorm Nieselregen Schutz suchend unterm Vordach. Dann weiß er aber doch einen Kiosk, einmal über den Parkplatz hinter dem Hotel, dann rechts, stimmt, da gibt es alles. „Einen schönen Tag noch“, wünscht die Frau hinterm Tresen. Beim  Bäcker kriegt man einen Kaffee und ein großes Stück selbstgebackenen Bienenstich für zusammen zwei  Euro, wo gibt´s denn sowas noch? Und das Tapaslokal gleich neben dem Hotel „Bremer Tor“ bietet als billigstes ein Schälchen für 60 Cent an, außerdem WLAN gratis über Kabel Deutschland. Das ist für die Hotelgäste nicht unwichtig. Da muss nämlich bezahlt werden, wieviel genau, ist auf der „The Cloud“-Website offenbar erst zu erfahren, wenn man schon allerlei persönliche Daten eingegeben hat. Ich erkläre einer Mitarbeiterin, dass Gratis-WLAN mindestens im Lounge-Bereich der Hotels inzwischen Standard ist. „Das haben uns schon viele gesagt“, sagt sie, „aber der Chef will das nicht.“ Außerdem seien sie nicht das einzige Hotel mit solchen Bedingungen. „Nicht in der Provinz jedenfalls“, sage ich etwas unhöflich. Wer sich konkurrenzlos sieht, zockt eher mal ab, so wie viele Kreissparkassen bei den Dispozinsen. Es ist doch, als müsse man fürs Heißduschen extra bezahlen. So sitzen wir nun, während es tröpfelt, unterm Vordach der noch geschlossenen Tapasbar und verbinden uns mit dem Rest der Welt. Das schützt vor der „Panik runter gelassener Rolläden“, die Brinkmann wahrnahm. Er, gerade er, wäre sicher ein grandioser Blogger gewesen. Jetzt wäre er 73. Irgendwie auch nicht vorstellbar, bei ihm.

Heute abend spielen wir (Cantus Cölln) im Rahmen des Musikfestes Bremen in der neoromanischen Laurentiuskirche Langförden Stücke von Kerll und Biber. Von Johann Caspar Kerll die „Missa in Fletu Solatium Obsidionis Viennensis“, 1689, über die Peter Wollny schreibt: „Während der Pestepidemie verlor er seine Frau und musste mit ansehen, wie sich in der Hofkapelle die Reihen seiner Kollegen lichteten; gleich anschließend wurde er Zeuge der schrecklichen Türkenbelagerung. Beides muss ihn in seinen Grundfesten erschüttert haben.“ Das Werk (der Titel bezieht sich auf die Belagerung durchs osmanische Heer) trage „ungewöhnlich persönliche Züge.“ Tatsächlich kann es einen schon in den allerersten Tönen unmittelbar und tief berühren. Später, in den dicht verschränkten chromatischen Passagen, ist reine Verzweiflung. Heinrich Ignaz Franz Bibers Musik wirkt daneben, zunächst, abstrakter, mehr an Konstruktionsraffinesse interessiert. Seine „Psalmi de B.M. Virgine“ (1693) gleichen Versuchsanordnungen, mit vielen und jähen Wechseln in der Struktur, aber je sicherer man sich da zurechtfindet, desto mehr Poesie wird dahinter frei. Im „Laudate pueri“ führt der Wechsel von je einem Sechsviertel-Takt und zwei Dreihalbe-Takten dazu, dass die Musiker zählen müssen wie im „Sacre“, die Hörer aber in Trance geraten können… Nachhörbar auf der neuen Cantus-CD!