Neue Wege zum Orchester: Pagh-Paan, Ravel, Messiaen und Sibelius

Die 34-jährige Younghi Pagh-Paan war in Freiburg mitten in der Arbeit an ihrer ersten Orchesterpartitur, als ihr Ende Mai 1980 die ARD-Tagesschau einen Schock versetzte: In der südkoreanischen Universitätsstadt Gwangju waren Proteste gegen die dortige Militärdiktatur mit einem Massaker beendet worden. Bis zu 2.000 Tote gab es. Die Aufnahmen eines deutschen Kameramanns lösten weltweit Entsetzen aus. Als die Komponistin diese Bilder sah, wurde sie von der blutigen Geschichte Koreas eingeholt, mit der sie aufgewachsen war, als zweitjüngstes von acht Kindern. Ein Bruder kam mit 17 Jahren im Koreakrieg ums Leben, ihr Vater zerbrach an dem Verlust und starb, als Younghi elf Jahre alt war.
„Was kann ich als Komponistin tun?“, fragte sie sich im Mai 1980. Als erste Frau in der Geschichte der Donaueschinger Musiktage hatte Pagh-Paan 1979 den Auftrag für ein großes Orchesterwerk bekommen, fünf Jahre, nachdem sie ihr Studium in Freiburg begonnen hatte. Unmöglich, die Arbeit nun abzubrechen. „Ich habe meine Ideen geändert, während ich komponierte. Meine Grundgedanken blieben alle da.“ In ihrer Partitur ruft sie auch die Musik ihrer Heimat wach, an die Menschen, die auf dem Markt am Fluss von Cheongju singen, trommeln oder den Gong spielen. „Musik, ins Leben eingebettet“, wie sie sagt, wird verbunden mit den Techniken, den komplexen Freiheiten der westlichen Avantgarde.
Pagh-Paan nannte das Werk Sori, das bedeutet Stimme, Klang, Ruf, Schrei. Sori ist von Anfang an ein Stück voller Leben, es scheint schon begonnen zu haben, ehe es anfängt – mit tiefen Holzbläsern und Streichern, von Horn und Posaune gefärbt. Dieser dunkle, breite Fluss ist kein ruhiger, er brodelt, entwickelt Strudel. Man möchte sich gerade einen Platz am Ufer suchen, als zwei aggressive Fortissimo-Takte hereinbrechen – Vorboten späteren Geschehens. Danach hohe, lang ausgehaltene Holzbläsertöne wie archaische Klagen, ehe eine Erzählung der Klänge, der Klangbilder ihren Sog entfaltet.
Material von ungeheurem Reichtum wird da zusammengehalten und fokussiert – einerseits strukturell, indem etwa ein Ton, eine Geste, ein Glissando von einer Instrumentengruppe in die andere wandert. Zum andern ist da immer der Fluss, das Fließen, fast eine Strömung. Und dann diese neue Farbigkeit, die der Perkussionsinstrumente neben den vier Pauken des Orchesters. Nicht weniger als 32 verschiedene Schlaginstrumente und Geräuscherzeuger sind es, so viele verschiedene wie bis dahin wohl in keiner anderen Partitur der Musikgeschichte. Auch hier ist Vielfalt nicht die Folge von Beliebigkeit, sondern von Genauigkeit – und dem Verbinden von unterschiedlichen Kulturkreisen.
Der helle Klang der koreanischen Glocke etwa – eine buddhistische Tempelglocke, mit einem Holzschlegel anzuschlagen – akzentuiert einen Posaunenton, der seinerseits, wie viele lange Töne in Sori, mit einem Halbton-„Seufzer“ beginnt, eher stimmlich als instrumental, fast klagend. Und wofür braucht man „eine Menge getrockneter Erbsen“? Sie werden in ein Bongo geworfen. Ohne Partitur kann man beim Hören den Ursprung solcher knappen Klänge kaum orten, aber auch sie prägen den Klang von Sori.
Trillerpfeifen hat Younghi Pagh-Paan erst nach dem Massaker von Gwangju in das Werk aufgenommen, dazu Marschrhythmen und Aleatorik. Über vier Partiturseiten hinweg, kurz vor Schluss des Stücks, wird das Orchester brutal entfesselt. Viele Jahre lang verriet die Komponistin niemandem, was gerade hinter diesen Klängen steckt, sie wollte Sori nicht als Programmmusik rezipiert sehen. Doch die Kohärenz des Ganzen, auch die Steigerung des Klangdrucks vor dieser Passage bringen uns dazu, die Signaturen der Brutalität als Realität an uns heranzulassen, als Entfesselung eines Potenzials, das stets auch in der Partitur präsent ist. Im Extrem bestätigt sich die Wahrhaftigkeit dieser Musik. Die Literatur brauchte bis 2014, bis zu Han Kangs Roman Der Junge kommt (auf Deutsch als Menschenwerk erschienen), um sich diesem koreanischen Trauma zu nähern. In Sori ist es unmittelbar gegenwärtig.
Trost und Stärkung
Gut vier Jahrzehnte später vollendet Younghi Pagh-Paan ihre sechste Partitur für ein Sinfonieorchester, wieder für Donaueschingen. Ein langer Weg führt zu dieser Musik, über den Abschied von Pagh-Paans Ehemann Klaus Huber, dem 2017 verstorbenen Komponisten, bis zur Auseinandersetzung mit einer eigenen langwierigen Krankheit und dem Blick auf eine Welt voller Not. Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Der Titel des nur etwa sieben Minuten langen Stücks ist dem biblischen Evangelium des Johannes (Kapitel 20, Vers 15) entnommen. Mit diesen Worten wendet sich Jesus an Maria von Magdala, die an seiner leeren Grabhöhle weint. „Mir geht es nicht um die biblische Auferstehungsgeschichte, sondern um den großen Trost, den ein suchender und weinender Mensch erfährt, und um die große Stärkung dadurch“, so Pagh-Paan.
Trost bedeutet hier aber nicht Entspannung, sondern das Gewahrwerden einer Situation von ungeheurer Dramatik, in der ein weiter, lichter Ausblick möglich ist. Nur ein Bruchteil der Perkussionsinstrumente von Sori ist der traditionellen Orchesterbesetzung hinzugefügt. „Ich brauche nicht mehr so viele Schlagzeuger“, hat Younghi Pagh-Paan schon 2015 gesagt, „diese Heimatklänge, dass es in mir rumpelt, um die Heimat zu bewahren.“ Die Erbsen im Bongo, die gibt es auch hier! Aber sie verbinden sich mit dicht gefügter Polyphonie, mit einem einzigen großen Gedanken.
Zirzensische Raubtier-Nummer
Ein Weg von hier zu Maurice Ravels Konzert für die linke Hand führt über das Papierklavier, das Younghi Pagh-Paan sich in den Fünfzigerjahren als Schülerin in Cheongju bastelte, da kein anderes Instrument zu haben war: aufgemalte Tasten, auf denen sie Imaginäres spielte. Ein solches „Instrument“ half auch dem Pianisten Paul Wittgenstein, als er in russischer Gefangenschaft seine linke Hand trainierte: Bei seinem ersten Kriegseinsatz als Soldat am 23. August 1914 hatte er mit 26 Jahren den rechten Arm verloren. Wie sein Philosophenbruder Ludwig Wittgenstein war Paul ein Mensch von enormer Gründlichkeit und Energie. Zudem konnte er über ein Millionenerbe verfügen, das es ihm später erlaubte, die bedeutendsten Komponisten seiner Zeit mit Werken für Klavier zu beauftragen, die nur mit der linken Hand zu spielen sind.
Maurice Ravel hörte Paul Wittgenstein 1929 in Wien, als er das Konzert Panathenäenzug von Richard Strauss spielte. Unmittelbar danach beauftragte Wittgenstein auch Ravel mit einer Komposition. Der schrieb das Werk parallel zu seinem G-Dur-Klavierkonzert – und beinahe als dessen Gegenstück. Anstelle der klassischen Konzertform, in der zwei schnelle Sätze einen langsamen flankieren, beginnt das einsätzige Concerto pour la main gauche als Lento und im Charakter einer sinfonischen Dichtung: Ein breit angelegter Weg führt von Düsternis zu gleißendem Licht, in das hinein das Klavier wie ein Raubtier in eine Arena tritt, zunächst solo, als solle demonstriert werden, dass kein Mangel zu vertuschen sei. Ravel gelingt es, die linke Hand als „rechte“ das Thema in Akkorden spielen zu lassen und dazu noch eine kontrapunktische Basslinie zu entwickeln.
Nach diesem halb pathetischen, halb zirzensischen Beginn treffen sich Solist und Orchester in einem Allegro, glasklar, witzig und raffiniert, mit polytonalen und polymetrischen Passagen, Anklängen an den – zur Entstehungszeit noch frischen – Boléro, auch an den frühen Igor Strawinsky mit dem Klavier als funkensprühendem Teil des Orchesters. Dieses formiert sich schließlich zum Circus maximus, in dem das „Raubtier Klavier“ die Szene beherrscht – mit einer Solokadenz, die zum Schwierigsten der Literatur gehört. Fünf Finger realisieren sowohl das Thema (am Ende gar in Oktaven gespielt!) als auch die Begleitung in 32stel-Arpeggien. Über sieben Partiturseiten hinweg schweigt das Orchester. Auch danach hat es nicht mehr viel zu sagen, die allerletzten fünf Takte sind ein ironischer Rausschmeißer. Alles nur ein Spiel? In seiner Doppelbödigkeit ist das Konzert dem Paris der 1930er Jahre näher als dem Auftraggeber Paul Wittgenstein, der zunächst vieles eigenmächtig umschrieb und sich von Ravel sagen lassen musste: „Interpreten sind Sklaven!“
Glaubensbekenntnis in Farben
Im Paris der Stilsynthesen und Brechungen des neoklassizistischen Igor Strawinsky oder des ironischen Francis Poulenc ist jener 24-Jährige eine Ausnahmeerscheinung, der im Sommer 1933 – dem Jahr der Pariser Erstaufführung von Maurice Ravels Konzert für die linke Hand – L’Ascension für Orchester vollendet, eine musikalische Betrachtung und Darstellung der Himmelfahrt Christi in vier Teilen. Olivier Messiaen, begabtester Zauberlehrling von Paul Dukas, nach eigenem Bekunden „schon gläubig auf die Welt gekommen“ und seit 1931 Organist an der Pariser Kirche Sainte-Trinité (was er noch 60 Jahre lang bleiben sollte), zeigt schon hier den Kern seiner Musiksprache: ein Glaubensbekenntnis in Farben. Choralhafter Blechbläserglanz für die Bitte Christi um Verherrlichung, Holzbläser und Streicher für das bewegteste, persönlichste Stück, das „frohe Aufjauchzen einer Seele“, in dem man noch Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune nachklingen hört. Es folgt eine Art Scherzo für das kurze Alléluias mit vollem Orchester. Schließlich das Gebet Christi mit schimmernden Akkorden der Streicher, von der Linie der 1. Violinen zusammengehalten, wie das ganze Werk in einer herben Harmonik, die keine Leittöne mehr kennt, Grundtonarten aber durchaus: Mit E-Dur, F-Dur, fis-Moll und G-Dur folgen die vier Stücke symbolisch dem Aufsteigen, der Himmelfahrt.
Ungewissheit ohne Gefahr
Auch Jean Sibelius’ 7. Sinfonie beginnt mit einem Aufstieg, aber sie führt ins Ungewisse. Am 2. März 1924 schreibt der finnische Komponist in sein Tagebuch: „Nachts fertig mit ,Fantasia sinfonica I‘.“ Zwei Monate lang hat der 58-Jährige ausschließlich daran gearbeitet, mit Blick auf die für den 24. März geplante Uraufführung in Stockholm. Fantasia, der Arbeitstitel, lässt schon ahnen, dass in diesem einsätzigen Werk nicht einfach einige Sinfoniesätze ineinander übergehen, womöglich noch mit überschaubaren Themen und Durchführungen. Viele Musikwissenschaftler*innen haben sich den Kopf zerbrochen beim Versuch, Formanalysen dieser 525 Takte zu liefern. Unbestreitbar zu erkennen sind zwei langsame Teile am Anfang und am Schluss sowie zwei scherzoartige Abschnitte dazwischen. Und ein symbolhaftes Posaunenthema gibt es, das an drei Stellen erscheint und eine Art Symmetrie herstellen könnte. Doch Architektonisches bleibt latent, unmittelbar wahrzunehmen ist es nicht.
Stattdessen wirkt alles, so klar es klingt, unberechenbar, die Musik scheint sich fast konzeptfrei zu entfalten. Der Anfang mit langsam und unisono in a-Moll aufsteigenden Tönen, die in einen as-Moll-Akkord münden, hat eine Spannweite, die eher auf 100 Minuten „Reisezeit“ angelegt scheint als auf nur ein Viertel davon. Aus kleiner Zeit wird großer Raum, und tatsächlich kommt man in dieser knappsten (und letzten) aller Sinfonien von Sibelius zu weiteren Horizonten als anderswo in vier Sätzen, ohne dass die Partitur je überladen oder undurchsichtig wirkt. Die „bewegte Weite“ (wie der Komponist Manfred Trojahn es nannte) können wir in der Siebten besonders genießen: eine Ungewissheit ohne Gefahr.
Nicht dass es keine Dunkelheiten, keine Verdichtungen und Steigerungen gäbe! Aber sie legen keine Analogien zu menschlichen Dramen nahe (an denen Sibelius’ Leben nicht arm war), sie „erzählen“ nichts – selbst da, wo Motive der Folklore entlehnt scheinen. Das Naturhafte wird dabei mit durchaus klassischem Komponier-Handwerk erreicht. Da entstehen etwa aus den springenden „Scherzo“-Vierteln gebundene Viertel der Streicher, gehen in Achtelsextolen unter langen Posaunentönen über – und wieder entsteht eine dieser Klangflächen, die grenzenlos scheinen. Dazu kommt eine Tonalität ohne Gravitation. Es gibt durchaus Dur und Moll, Modulationen, Leittöne, aber die Harmonik richtet sich an keinem Zentrum aus, sie folgt dem Eigensinn der Linien: „Ich bin der Sklave meiner Themen und unterwerfe mich ihren Wünschen“, schrieb Sibelius über seine Arbeit. Später war er diesen Wünschen nicht mehr gewachsen: Seine 8. Sinfonie warf er 1945 ins Feuer.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm des Busan Philharmonic Orchestra, das am 23. September 2025 in der Berliner Philharmonie beim Musikfest Berlin gastiert. Das Orchester feiert damit den 80. Geburtstag (30. November) der Komponistin Younghi Pagh-Paan. Am 25. September wird dieses Programm bei der musica viva im Müchner Herkulessaal wiederholt, wobei an die Stelle von Ravels Konzert ein weiteres Orchesterwerk von Pagh-Paan tritt. Meine Zeilen zu “Hohes und tiefes Licht” (2012) sind auf der Website der musica viva zu finden. Das Foto (Quelle: Ricordi-Website) zeigt Younghi Pagh-Paan vermutlich ca. 1980.