Kategorie-Archiv: Begegnungen

“Der Sarg war schon bestellt”

Seine 14. Oper “Phaedra” hat Hans Werner Henze fast das Leben gekostet. Endlich wird sie nun in Berlin uraufgeführt. Ein Hausbesuch bei dem 81-jährigen Komponisten [DIE ZEIT, 6.9.2007]

Er sitzt im Schatten der Terrasse, auf Olivenbäume blickend. Er wirkt kleiner als erwartet, wie das oft ist, wenn man zuerst die Werke kennt. Kleiner auch als der Mann, den man nach Uraufführungen sah, wo er jederzeit der Bestgekleidete war, mit bronzenem Teint auffallend vital wirkend zwischen bleichen Musikern und geschminkten Sängern. Hans Werner Henze ist jetzt 81 Jahre alt. Mit einiger Mühe steht er auf, doch er funkelt amüsiert, als er die Herkunft des Besuchers erfährt, Niedersachsen. “Darf ich was sagen? Sie sehen aus wie ein Hannoveraner. Meine Großmutter war auch aus Hannover…” Henze sieht jedenfalls nicht aus wie ein gebürtiger Westfale in seinen leichten weißen Sommersachen, mit dem Aristokratenprofil und den hellen mittelmeerischen Augen. Vor mehr als einem halben Jahrhundert ist er nach Italien gezogen.

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Und hier, auf seinem Gut südlich von Rom, hat er vor fünf Monaten seine jüngste Oper fertiggestellt, Phaedra. Die hat ihn fast das Leben gekostet. Henze erlitt während der Arbeit einen Kollaps, sein Lebensgefährte pflegte ihn gesund. Doch Fausto Moroni selbst starb mit erst 63 Jahren, kaum dass Phaedra fertig war. Henzes “engster, liebster Freund”, Gestalter des Wundergartens, der das gelbe Haus umgibt, “byzantinisches Fürstenkind, Kleinbauer und Seefahrer von beispielloser Begabung für die Kunst des Lebens”. Fausto, der ihm vier Jahrzehnte zuvor in Rom erklärt hatte, er könne mit seiner Musik so gut wie gar nichts anfangen, dann die Ruine auf dem Landsitz sah, den Henze gerade erworben hatte, und beschloss, doch nicht nach Amerika auszuwandern, sondern sich um die Baustelle zu kümmern. Jetzt spürt man hier die Trauer.

Seine 14. Oper ist Henze in mehrfacher Hinsicht nahegegangen. Der zweite Akt von Phaedra spielt hier in der Nähe, am Saum der Berge. Die Gegend ist von vorchristlicher Geschichte durchtränkt wie keine andere, das reicht tiefer zurück als in der Ewigen Stadt, die man vom Garten aus im Tibertal liegen sieht. “Rom ist für die Leute hier Kinderkram”, sagt Henzes Assistent Michael Kerstan. “Es gibt hier eine Autowerkstatt, in der man an der Wand ein Fresko des Mitras-Kults sehen kann. Das war noch vor Diana.” Also noch bevor die hellenische Artemis zur lateinischen Diana wurde und hier in der Nähe ihr Heiligtum bekam, als Folge des Dramas um Phaedra…

Am 6. September wird Phaedra in der Staatsoper Berlin uraufgeführt, die 14. Oper von Henze, der nach seiner 13. gesagt hatte: “Es langt, denke ich.” Peter Mussbach inszeniert, Olafur Eliasson gestaltet den Raum, Michael Boder leitet das Ensemble Modern. Als der junge sächsische Lyriker Christian Lehnert erfuhr, Henze wünsche ihn als Librettisten, wusste er wohl kaum, wie ihm geschah. Es ist “in gewisser Weise so, als würde man für Brahms arbeiten. Oder für Beethoven… er hatte das Gefühl, daß sein Blut abrupt die Blutgefäße hinunterstürzte, so daß er für einen Moment schwankte und sich eine Sitzgelegenheit suchte.” So schreibt es nicht Lehnert, sondern ein früherer Librettist. Hans-Ulrich Treichel machte aus seinen Erfahrungen mit Henze den Roman Tristanakkord, in dem es allerdings um eine Hymne und nicht um eine Oper geht, schließlich hat auch Brahms nie eine geschrieben. Es empfiehlt sich nicht, Henze auf den Roman anzusprechen. “Er hat es nie gelesen”, sagt sein Assistent, “er hat sich davon erzählen lassen und war empört.” Schade, es ist ein witziges, schönes Buch.

Diesmal entstand ein Buch schon vor der Oper, es vereint Tagebucheinträge von Henze und Notizen von Lehnert, der im Mai 2004 das Berliner Hotel Adlon betrat, mit zerschlissenem Rucksack. Mit der Musikwelt hatte er kaum zu tun. Lehnert, von Beruf Pfarrer in Müglitztal bei Dresden, hatte bis dahin nur Lyrik geschrieben. Die aber entdeckte Henze in einer Zeitung, danach entschied er sich für den jungen Sachsen. Man wollte den im Hotel zuerst gar nicht vorlassen zum Komponisten. Dann saßen sie im luxuriösen Appartement, aßen “Sandwiches von der Größe eines Kronkorkens” und besprachen die neue Oper. Lehnert zweifelte, ob er der Richtige sei. “Hans insistierte in einer für ihn typischen Mischung aus Komplimenten, Ironie und Starrsinn.” Der neue Text sollte neben Euripides, Racine und Schillers Übersetzung bestehen.

“Schiller ist grauenvoll, finden Sie nicht auch? Vielleicht sollten wir einige seiner Verse aufnehmen.” So ging das los. Phaedra ist die Geschichte einer unerwiderten Liebe. Phaedra, Frau des Theseus auf Kreta, hat sich in ihren Stiefsohn Hippolyt verliebt. Den lässt das kalt. Gedemütigt verleumdet sie ihn bei ihrem Mann, dem Bezwinger des Minotauros: Hippolyt habe sie zur Liebe gezwungen. Dann erhängt sie sich. Theseus glaubt ihr. Er ruft den Meeresgott an, der einen gewaltigen Stier aus den Fluten steigen lässt, als Hippolyt seinen Wagen am Ufer entlangsteuert. Die Pferde gehen durch, die Räder brechen, der Jüngling wird zu Tode geschleift. Doch die Göttin Artemis bringt ihn in einer Wolke nach Italien und erweckt ihn zu neuem Leben – am See Nemi, zwölf Kilometer von hier. Da gibt es noch die Tempelreste, müllübersät.

Hier wurde nämlich bei den Römern Hippolyt zu Dianas Priester und hieß Virbius, “aber das klingt ja wie eine Schlaftablette, Virbiol oder so”, meint der Komponist. Seine Gestalten bleiben griechisch. Es singen Aphrodite, Artemis, Minotaurus, Hippolyt und Phaedra. Die verfolgt als Untote und Vogelwesen den Geliebten bis nach Italien. Henze fand sie “zuerst ganz nett, aber dann stellt sich raus, dass es ein ziemlich mieses Weibsstück ist, unedel, habsüchtig, bösartig, intrigant, achtlos, ohne Achtung… I’m sorry!” Sie ist als Mezzosopran besetzt – eine Mezzosopranistin regte Henze zuerst zu diesem Stoff an. Mitunter tauchen mit Phaedra zwei Wagnertuben auf, die hier keineswegs nach Drachenhöhle klingen, sondern zum Beispiel sanft das Erwachen der Liebe begleiten: “Dein Blick traf mich einst im Tempel beim Erheben des Opfers ins Feuer…”

Endlos sitzt Henze auf der Terrasse, allein mit seinem Olivenhain

Die Besetzung des kleinen Orchesters ist gewagt, ausgerichtet am Ensemble Modern, das die Uraufführung realisiert. Von 23 Instrumentalsolisten sind gerade mal vier Streicher: Geige, Bratsche, Cello, Kontrabass. Zwei Perkussionisten bearbeiten dagegen 28 verschiedene Felle, Hölzer und Metalle, es kommen Klavier und Celesta dazu, und zu den 15 Bläsern gehören die beiden Wagnertuben. Wenn sie überhaupt nach Wagner klingen, dann wie einer, der auch dem späten Nietzsche gefallen hätte: mozartisch, südlich, melodisch. So wirkt es zumindest bei der ersten Durchspielprobe ohne Sänger in Frankfurt. “Wie ist es mit der Balance?”, fragt Henze, der nicht dabei sein konnte. Das Ganze ist so durchsichtig, ja lichtdurchlässig, dass es keine Probleme gibt. “Ich kann eben einfach gut instrumentieren!” Er lacht, als hätte er das bezweifelt.

Bei der Uraufführung in Berlin, schreibt er im Tagebuch, “werde ich mehr über mich erfahren können, über mich als Fachmann für Angst und Leiden”. Nicht nur, weil in Phaedra die Liebe mehrfach zum Tod führt, sondern weil der Tod auch Henze selbst bedrohte. Nach dem ersten Akt, im Herbst 2005, verließen Henze die Kräfte. “Ich hörte auf zu reden und schlief immerzu”, sagt er. Im Oktober brach er zusammen und wurde nach Rom ins Krankenhaus gebracht. Dann pflegten ihn sein Lebensgefährte Fausto Moroni und Assistent Michael Kerstan zu Hause sechs Wochen lang. Es stand schlecht um ihn. “Der Sarg war schon bestellt, die Traueranzeige gedruckt”, sagt er, ohne eine Miene zu verziehen. Und doch ging es gut. Anfang 2006 begann er mit der Arbeit am zweiten Akt, passenderweise der Reanimation des zerschmetterten Hippolyt am Nemisee.

Die Arbeit ging langsam vonstatten. “Er kann endlos auf seiner Terrasse sitzen, allein mit seinem Olivenhain”, schreibt der Librettist. “Er scheint den Lebensrhythmus der Bäume anzunehmen. Schon die Hühner, die zwischen den Stämmen picken, empfindet er als unakzeptable Störung. Noch schlimmer sind die Flugzeuge, die von Ciampino starten, oder die Hubschrauber, die über seinen Garten zur Sommerresidenz des Papstes fliegen.” Indessen genügt Henze, wenn er so da sitzt, mitunter schon der Blick auf fünf Telegrafendrähte hinter der alten Mauer, um in diesen luftigen Notenlinien eine Zwölftonreihe zu imaginieren. “Immer mehr habe ich ein Es gesehen, ein F, ein Cis…” Und manche komplexe mehrstimmige Passage, sagt er, “brauche ich nicht nachzuprüfen am Klavier, es stimmt einfach, das kommt in den letzten Jahren öfter vor”.

“Mit dem Tod ist alles aus. Das zu wissen, macht das Leben intensiver”

Aber die Arbeit und die Schicksalsschläge haben ihn müde gemacht, er hört oft nicht mehr gut, seine linke Hand, mit der er früher schrieb, zittert. Als abends eine Besucherin aus Japan mit Blumen kommt, gibt er den Strauß schnell weiter – der Arm tut rasch weh von dem Gewicht, lieber noch eine “acqua macchiata”, Wasser mit Schuss, ehe man sich zum Essen setzt. Es wird zubereitet von dem albanischen Ehepaar, das er und Fausto aufnahmen – Bootsflüchtlinge mit einem dreijährigen Sohn. Eine Tochter kam vor neun Jahren hier zur Welt, auf La Leprara. Nun stehen diese Geschwister vor ihm, Aurora und Aurelian, sanft und schön wie aus einem Märchen, schüchtern lächelnd. “Ich bin nicht der Vater, leider”, sagt er. “Es ist meine größte Freude, diese Kinder wachsen zu sehen. Fausto hat alles für sie getan. Jetzt haben sie sogar italienische Pässe.”

Die Japanerin ist in Nagoya geboren, das bringt uns wieder zu Phaedra. Denn in Nagoya erlebte Henze erstmals das Stück von Racine, vor gut 40 Jahren. Auf Japanisch. Er schlief im Theater ein und schreckte erst hoch, als Phaedra laut “Kokolo!” rief. So hieß damals auch Henzes Hund. Auf Japanisch heißt es aber “Herz”. Er fragt sie, wie man es in Japan mit der Religion halte. Die spiele keine große Rolle, erzählt sie. Er schweigt wieder und lauscht dem Gespräch, das über den Papst und dessen Steinway zu dessen Haushälterin gewandert ist. Plötzlich sagt er: “Ich finde es gut, wenn die Leute an nichts glauben. Keine Religion. Mit dem Tod ist finita la commedia. Es macht unser Leben intensiver und klüger, wenn wir das wissen.” Vollmond über der Terrasse, ein Flugzeug von Osten blinkt im Sinkflug. Das ist die Route, sagt er, auf der einst die Götter kamen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien zuerst in der ZEIT, 6. September 2007. Hans Werner Henze starb 86-jährig am 27.Oktober 2012 in Dresden; mein Nachruf auf ihn erschien auf ZEIT online. Das Foto von Henze auf seiner Terrasse entstand 2009, mit Quellenhinweis “PD” ist es auf NZZ online vom 2. Juli 2019 zu finden.

 

Auge der Musik

Vor 100 Jahren [DIE ZEIT,  4. Dezember 2008] kam Elliott Carter, Altmeister der amerikanischen Avantgarde, in New York zur Welt. Dort lebt und komponiert er noch immer. Ein Besuch

Drei Tage bevor Elliott Carter zur Welt kam, hatte Gustav Mahler ein paar U-Bahn-Stationen weiter seine Auferstehungssymphonie in New York dirigiert, amerikanische Erstaufführung, mäßiger Erfolg. Drüben in Europa hatte Schönberg gerade die luft von anderem planeten vertont und den Skandal noch vor sich. Hundert Jahre später sitzt Elliott Carter, geboren am 11. Dezember 1908, in seiner Wohnung, nach wie vor in Manhattan, und wiegt die Partitur in Händen, die ich mitgebracht habe. Seine Symphonia von 1996. “Oh my God. So schwer! Ich hab die noch nie vollständig gesehen.” Er legt die Noten auf den Boden und zeigt entschuldigend neben sich, auf dem Sofa liegen CDs und Bücher. “Ich bin nicht sehr ordentlich… Möchten Sie Tee?”

Eliott Carter ist zierlicher, kleiner geworden in den letzten zwanzig Jahren, er benutzt einen Stock zum Gehen und ein Hörgerät. Aber auch wenn man nicht wüsste, dass er zu den wichtigsten Komponisten des vorigen und des jetzigen Jahrhunderts zählt, würden einen seine Augen aufmerksam machen. Helle, genaue Blicke. Freundlich. Und abwartend. Auch ein selbstbewusster Künstler muss, wenn ihm sein hundertster Geburtstag bevorsteht, befürchten, dass ihn die Journalisten nicht nur besuchen, weil sie seine Kunst bewundern. Sie hätten ja auch früher kommen können. Andererseits, wie sollte man nicht fasziniert sein von einem, der mit hellem Bewusstsein über mehrere Epochen blickt und zudem jenseits der 80 als Komponist aufgeblüht ist wie keiner vor ihm?

Die Zeit, das sonderbar’ Ding: Kein anderer Musiker hat es so gründlich auseinandergenommen, durchleuchtet, befreit wie dieser freundliche Herr. Seine Symphonia, die neben dem Sofa liegt, beginnt mit höchster Ereignisdichte, fast lichtschnell. Sie springt einen an. Ein Schlag der tiefen Bläser und Streicher, mit Klavier und Trommel entfaltet sich mit unfassbarer Geschwindigkeit durch 33 Notensysteme nach oben. Da fliegen einem Teile um die Ohren und sind zugleich so klar zu sehen, als stünden sie in der Luft. Eine komponierte Explosion? Ein Hyperraumsprung von Alpha Centauri in die 12th Street West, New York? Swoosh! Jäh bremst die Musik, sanft legen sich lange Flötentöne übereinander wie die Schatten der Bäume vor Carters Haus.

Wenn Carter “jetzt” sagt, schwingt ein ganzes Jahrhundert mit

Er lächelt und sagt: “Es ist so ähnlich wie bei Mozart.” Mozart? Ohne Metrum, ohne Tonalität, ohne Melodie! “Bei mir entwickelt sich immer etwas von einem zum andern. Zum Beispiel der Abschnitt mit den tiefen Flöten, der etabliert etwas im nächsten Abschnitt, woraus wieder etwas hervorgeht…” Dieses Verfahren sei Mozart näher als Bach, der sich pro Stück mit einer Sache befasse und sie von allen Seiten beleuchte. “Wie Boulez.” Carter bewundert den jüngeren Kollegen, der vieles von Carter dirigierte. “Einmal in London, da kamen nicht viele, und er sagte, der Applaus klingt wie Schneefall…” Er lacht sehr lange, ehe er wieder ernst wird. “In den USA können wir uns Schneefall nicht leisten. Hier müssen Sie Sachen spielen, die das Publikum mag, sonst werden Sie nicht aufgeführt. Ich wollte aber Musik schreiben, die schwierig ist. Warum, kann ich nicht erklären. Ich wollte das nun mal…” An den Eltern lag es nicht. Carters Vater, ein erfolgreicher Textilimporteur, war strikt gegen den Wunsch seines Sohnes, Komponist zu werden. Dieser Wunsch erwachte, als Carter 1923 in der Carnegie Hall Strawinskys Sacre du Printemps hörte, zehn Jahre nach der legendär skandalösen Pariser Uraufführung. “Ich dachte: Das ist das Größte, was ich je gehört habe. Ich möchte Komponist sein, um auch so etwas zu schreiben. Wunderbar, aufregend! Ein Teil des Publikums lief raus, sie hassten es.”

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Der Gymnasiast befreundete sich mit Charles Ives, dem großen Einzelgänger von New England, der ihm am Klavier seine Concord Sonata vorspielte. “Zu der Zeit habe ich mich nur für moderne Musik interessiert. Ich dachte, Bach und Beethoven sind langweilig. Die Moderne hat etwas in sich, das wir in älterer Musik nicht finden. Es ist now, kein Spiegel in der Vergangenheit.” Wenn Carter “jetzt” sagt, ist das so eine Sache. Zur Gegenwart gehören für ihn Béla Bartók wie Pierre Boulez, die er beide berühmt werden sah, einen vor und einen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die aktuelle Finanzkrise erinnert ihn nicht nur an die Große Depression der Dreißiger, sondern auch an Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. “Mein Vater nahm mich auf einer Geschäftsreise mit nach Berlin. Die Leute verkauften Uhren an der Straße, um was zu essen zu kriegen, und wir wohnten im Adlon, da stahlen einem die Kellner das Essen vom Tisch. So schlimm wird’s wohl nicht werden jetzt. Das war ja wegen des Vertrags von Versailles…”

Carter wuchs sorglos auf. Er studierte in Harvard Musik, englische Literatur, Griechisch und Philosophie, lernte Klavier und Oboe. Das Komponierhandwerk veredelte er Anfang der 1930er in Paris bei der legendären Nadia Boulanger – noch immer gegen den Willen von Carter senior. Doch die Mutter unterstützte ihren Sohn heimlich mit tausend Dollar im Jahr. “Bei Boulanger lernte ich den Glauben an die Noten. Man schrieb keine Noten, die nichts bedeuteten.” Und man trainierte das Kontrapunktieren mehrerer selbstständiger Stimmen. Diese Technik trieb Carter später in neue Dimensionen voran. Doch bis zum Durchbruch dauerte es. 1935 kehrte er nach New York zurück, per Schiff. “Gegen die Seekrankheit hat mir Brahms geholfen. Ich ging im Kopf eine Symphonie durch, dann wurde mir besser!” Der romantische Kontrapunktiker ist ihm überhaupt nah. “Ich neige immer mehr zu Schönbergs Ansicht, dass er radikal war. Noch 1926, als ich in Boston studierte, liefen die Leute bei Brahms raus. Da hätte auf dem Notausgang stehen können: Exit in case of Brahms!”

Er zählt ihn auch zu den Pionieren seines eigenen Wegs, den er erst spät und einsam mit 42 Jahren fand. Carter verbrachte ein Jahr in der Wüste von Arizona. “Ich kannte die ganze Welt der Klassik und der Gegenwart und musste diese Musik wegräumen auf der Suche nach dem, was ich wirklich sagen wollte. Viele Skizzen dienten nur dieser Suche.”

Im ersten Streichquartett fand er seinen Weg. Die vier Instrumente haben keinen gemeinsamen beat, auch ihr je eigenes Tempo wandelt sich dauernd. Das Cello beginnt einen Monolog mit Metronomzahl 120 pro Viertel, sein zweites Thema basiert auf fünf Achteln à 48, dann zupft die zweite Geige im Tempo von fünf Sechzehnteln à 96 dazu, was das Cello keineswegs beeindruckt, danach singt ganz oben die erste Geige etwas völlig anderes, und wenn die Bratsche einsetzt – nein, dann ist eben nicht das Chaos komplett. Die vier eigensinnigen Stimmen verbinden sich, um Weite zu erzeugen, Klarheit. Die Polyphonie der Metren, bei Carters Vorbildern Ives und Conlon Nancarrow noch etwas mechanisch, wird zur Modulation, sie entfaltet sich wie ein Gesang. Die Wüste lebt, die Zeit wird vielschichtig, formbar.

Darin, meint der Komponist, spiegele sich auch die gewandelte Zivilisation. “Auf einem Pferderücken zu reiten ist etwas völlig anderes als die Reise im Flugzeug. Der regelmäßige Puls ist komplett aus unserem Leben verschwunden.” Da erklärt er sich, entgegenkommend, wie er ist, vielleicht zu einfach. Denn zum einen ist der Herzschlag als Basso continuo des Lebens nie verschwunden. Zum andern vermeidet Carter nicht nur im Tempo das Regelmaß, er mag auch sonst keine Muster. Erst im Spätwerk kommt es vor, dass ein Motiv, eine Geste mal eindeutig wiederholt wird und dass sich beim Hören unmittelbar Anhaltspunkte bilden. Zitate und Historismen meidet er. Dass Carter lange als ein Komponist für Komponisten galt, hat auch damit zu tun.

Seit 1945 lebt der Komponist in seiner Wohnung in Greenwich

Bei Kollegen trug ihm seine Arbeit höchstes Lob ein: Igor Strawinsky nannte Carters Doppelkonzert für Cembalo und Klavier von 1961 ein “Meisterwerk”. Das freut ihn noch immer so sehr, dass er abwiegelt: “Vielleicht war er ja nur höflich…” Carter hat den Kometen seiner Jugend völlig unverhofft kennengelernt. “1945, als Anton Webern von dem amerikanischen Offizier erschossen worden war, organisierten meine Frau und ich in New York ein Konzert mit seiner Musik, Juillard Quartet, sehr gute Leute. Es kamen sechs Zuhörer. Zwei davon waren Strawinsky und sein Assistent!” In jenem Jahr 1945 zogen Elliott Carter und seine Frau Helen in die Wohnung, in der wir jetzt sitzen, später haben sie sie für 15000 Dollar gekauft. “Damals war Greenwich Village komplett von Künstlern bevölkert, die Wohnungen waren sehr billig, notdürftig. Edgar Varèse wohnte fünf, sechs Blocks weiter! Jetzt ist das ein Ort für Leute von der Wall Street. Ich bin wohl einer der letzten Künstler, die hier leben.” Seit Carter sie erwarb, ist die Immobilie um das 200-fache im Wert gestiegen. Hier komponiert er jeden Tag von 9 Uhr morgens bis halb zwölf, Besucher empfängt er nachmittags. Er hat eine Haushälterin und einen Assistenten, und einen Fahrstuhl gibt es natürlich auch.

Hier, in der achten Etage eines alten Backsteinhauses, entstand auch die Symphonia, ein zentrales Werk seiner späten Phase. “Dabei tat ich Sachen, die ich nie zuvor getan hatte. Ich plante nicht Polyrhythmen von vorn bis hinten. Es waren kleine Teile, die zusammengefügt wurden, wie ein Spiel. Darum heißt der erste Satz Partita – so nennt man in Italien ein Fußballmatch. Die Fragmente wurden ausdrucksvoll, weil es Fragmente waren.”

So einer tut sich mit der Oper schwer. Carter musste 90 werden, um etwas für Musiktheater zu schreiben. “Alle andern wählten immer eine berühmte Story, einen Roman, etwas aus der Geschichte. Ich wollte das nicht. Dann fiel mir ein, dass jeder etwas mit Autos zu tun hat. Abgesehen von Sex, sind Autos das, was die meisten Menschen bewegt. Also komponierte ich einen Autounfall.” Kein tragisches Stück, sondern ein “humoristisches”. Niemand wird verletzt bei diesem Crash, den man gleich zu Beginn wie in Zeitlupe hört. Perkussionsinstrumente zeichnen in lichter Textur herumfliegende Autoteile. Verwirrt stehen dann die Passagiere da, wissen nicht mehr, woher sie kommen, wohin sie wollen: What Next? heißt das 45-Minuten-Stück.

“What next?” könnte auf dem Schild an Carters Werkstatt stehen. Keine Wiederholungen! In jedem seiner jetzt 90 Werke hat er Neues versucht. “Ich mag keine Musik schreiben, die mir nicht wie ein Abenteuer vorkommt”, sagt er. Trotzdem hat er einige Abenteuer der Avantgarde nie ausprobiert: Elektronik, Kratzgeräusche, Zufall. Wie mit ihm John Cage, dem anderen großen Alten der amerikanischen Musik, steht Elliott Carter wie der Kontrollfreak neben dem Anarchen. Dabei ist er undogmatisch: Er bewundert zumindest den frühen Elektroniker Karlheinz Stockhausen, er mag den Klangentgrenzer Helmut Lachenmann und den eruptiven Wolfgang Rihm, “aber der ist von furchtbar schwankender Qualität”. Von Esoterikern wie Arvo Pärt hält er gar nichts. “Das klingt wie mittelalterlicher Gesang, aber die Gregorianik war viel interessanter.”

Geradezu beängstigend findet er den Minimalismus von Phil Glass, “den Gedanken der Wiederholung. Auch im Fernsehen wird alle drei oder fünf Minuten dasselbe wiederholt. Over and over. Es hält einen vom Denken ab.” Dagegen hat er jahrzehntelang ankomponiert, hat mitunter fast hermetisch einen Raum zum Denken gesichert. “Ich war früher viel reflektierter als heute”, sagt er, “und jetzt bin ich ungeduldiger. Ich möchte die Stücke jetzt schneller fertig haben. Wenn ich mir angucke, was das für Mühe macht, wundere ich mich, dass überhaupt jemand komponiert. Das ist ja nicht wie Schreiben, wie Literatur. Es ist, als ob man in einer Sprache etwas gut sagen will, die man nicht sehr gut kennt.”

Häufig erlebt man in seinen späten Stücken die Gleichzeitigkeit von Emotion und Abstraktion. Im Hornkonzert von 2006 bläst der Solist über zerklüfteten Strukturen sehnsüchtige Kantilenen, die von Britten sein könnten. Im letzten Viertel der Partita hört man immer wieder regelrechte Schreie der Blechbläser, von denen das dicht verzahnte Orchester unterbrochen und der Hörer erschrocken wird – aber es sind eben nicht nur Schreie, sondern zugleich Klangereignisse fern von Ausdruck, die ihren Platz in einer Konstruktion haben. Es geht einem da wie mit jenem erloschenen Vulkan im Indischen Ozean, der, aus der Luft betrachtet, einem Elefantenauge gleicht. In Carters steinigsten Passagen kann man plötzlich angeblickt werden.

Am Ende des Couchtischs steht auf einem Hocker eine Skulptur, ein schlichter, schöner, schmaler Frauenkopf aus Stein. “Das ist sie”, sagt Carter. Ein Selbstporträt von Helen Jones Carter, geboren 1907, ein Jahr vor ihrem Mann. Sie starb 2003. Er sagt “vor etwa zehn Jahren”. Er, dessen Gedächtnis ein Jahrhundert umfasst, will sich an dieses Jahr nicht erinnern. “Ich sag’s nicht gern, aber sie gab die Bildhauerei auf, zwei, drei Jahre nach unserer Heirat. Ich wurde ihre Statue… Sie kümmerte sich um mich, wirklich eine wunderbare Frau. Sie sagte, sie habe nicht genug Originalität, um etwas Wichtiges zu schaffen, etwas Interessantes. Ich meine… ich könnte Ihnen ein paar Bilder zeigen, später, von ihren Sachen. Wir haben schöne Reisen gemacht. Istanbul…”, sagt er leise.

Weil in Carters Musik das Subjekt so gut in der Konstruktion geborgen ist, kann es sich unendlich verletzlich zeigen, wie in Shadows (2002), einem Stück für Mezzosopran und Orchester nach Worten von William Carlos Williams. Es ist, als schreibe Carter, indem er behutsam den Worten folgt, einen zweiten, anderen Text. Wo Williams dichtet, “zugleich eins mit allen Menschen und zugleich nicht”, führt uns Carter zu tiefster Intimität, zu einer Dünnhäutigkeit von Wesen, die sich fast zu vertraut sind, um es zu ertragen – aber ein Fenster ist offen, es regnet sanft. Wie können Töne so etwas wachrufen?

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien zuerst in der ZEIT, 4. Dezember 2008, und ist auch auf ZEIT online zu lesen. Ein Text zur Ersteinspielung von Carters Symphonia erschien am 14. Oktober 1999 in der ZEIT. In Carters letztem, 103. Lebensjahr entstand Instances für Kammerorchester, wozu hier etwas zu lesen ist. Das Foto (Wikimedia Commons) zeigt Elliott Carter 1917.

“I love suffering on stage!”

Sondra Radvanovsky über ihre Annäherung an “Turandot”, ihre Jugend in Indiana, ihren Kanal “Screaming Divas” und ihr Alter Ego Sandy

Was ein paar gesungene Töne anrichten können, das ist vielleicht nirgends so frappie­rend wie an einem der nüchternsten Orte des Theaters, der Probebühne. Kein Or­chester, keine Illusion. Ein bisschen Requisitenersatz aus Pappe und Holz, ein Flügel, Tische für das Produktionsteam, eineinhalb Dutzend Leute in Alltagsklamotten, Werkstatt, eine Atmosphäre, als warte man entspannt auf den Bus. Was dazu nicht passt, ist, dass eine junge Frau ihren Kopf durch einen Holzrahmen streckt, den zwei andere gelassen hochhalten. Akkorde vom Klavier. Der Regisseur geht auf die Spiel­fläche. Abbruch, ein paar Worte. Wieder Klavier. Eine Frau in Jeans, blondgelockt, lässt die im Holzrahmen frei. «Si lasciata! Parla! Rede!» «Piuttosto moro! Lieber sterbe ich!»

Gerade mal elf Silben, elf Töne haben die beiden gesungen, nicht laut, nicht dramatisch, parlando zwischen a und d, und doch ist da plötzlich ein ganz anderer Horizont, eine andere Körperspannung. In beider Stimmen hat man Charaktere ge­hört, die ganze Oper steckt schon darin, Puccinis Turandot, die auf diese Szene zuläuft. Von wegen Buspassagiere. Es ist Liù, die einen Namen nicht preisgeben will, und Prinzessin Turandot, die sie foltern lässt. Es sind zwei bestens befreundete So­pranistinnen, die einander hier gegenüberstehen. Aber in diesem Moment, in diesen Takten und Tönen sind Rosa Feola und Sondra Radvanovsky in einer anderen Welt, bis in die Fingerspitzen hinein.

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«Mich interessiert, wie sie sich bewegt, atmet, geht», hat Sondra vorher im Foyer über Turandot gesagt, die sie zum ersten Mal auf der Bühne verkörpert, «all das ge­hört zur Sprache des Charakters. Wir erforschen ihn noch. Wir müssen viel Background erschaffen, denn wir kennen ihn nicht. Normalerweise wird sie als wütende Frau gezeigt, als hochdramatische Rolle. Aber Puccini hat viel Weiches, Delikates für sie geschrieben. Ich finde sie sehr widersprüchlich.» Wie bewegt sie sich denn, diese Prinzessin, die so viele Männer töten liess? «Ganz anders als Medea. An der MET war ich als Medea eine Schlange, mit einer gleitenden Agilität in ihren Bewegungen. Turandot ist rigider, da gibt es keine kontinuierliche Bewegung. Hin und her, schnell, langsam, dann wieder eine schnelle Bewegung, wie ein Löwe im Sprung auf die Beute.»

Steckt etwas von ihr selbst in den Gestalten, die sie verkörpert? «100 Prozent! Das macht es persönlicher, realer, glaubwürdiger. Ich hätte auch Schwierigkeiten, eine Frau zu spielen, die nicht für das einsteht, was sie glaubt. Ich sehe mich selbst als starke Frau.» Es gibt allerdings eine Menge geopferter und hilfloser Frauen im Opernrepertoire, gerade im Sopranfach, wie kommt sie damit klar? «Ich spiele sie stärker, als sie sein sollten, diese welkenden Blumen. Die Stärke in ihnen zu finden, das macht auch die Opern interessanter. Aber besonders Puccini war der König im Erschaffen starker Frauen, er war seiner Zeit voraus. Das sind auch zerrissene Persön­lichkeiten, gezwungen, zwischen dem einen und dem anderen zu wählen. Schwarz oder Weiss, es gibt kein Grau bei Puccini, bei Verdi dafür eine Menge. Tosca, die Scarpia tötet!»

Da indessen auch viele starke Frauen auf der Bühne sterben müssen, freut sich Sondra auf ein Projekt mit ihrer Freundin Marina Abramović («Wir sind wie Schwes­tern»). Die Performancekünstlerin hält sie für die Idealbesetzung in 7 Deaths of Maria Callas, ein Projekt, das der Diva aller Diven in Todesszenen aus Opern von Norma bis Tosca folgt. «Marina meint, von allen in meiner Generation sei meine Stimme der Callas am nächsten. Meine Stimme ist nicht an sich schön, sie hat eine Kante, nicht jeder mag das, aber sie ist anders und unverwechselbar. Meine Generation ist vielleicht die letzte, die noch Zeit hatte, ihre Stimme sich organisch entwickeln zu lassen, sich zu finden.»

Damit hat Sondra allerdings sehr früh angefangen – als 11­-Jährige. Tosca war ihr Erweckungserlebnis 1980, im Städtchen Richmond, inmitten der endlosen Rinderwei­den von Indiana. Sie sah und hörte im TV eine Übertragung aus Verona, Plácido Domingo beeindruckte sie masslos, «das Singen, aber auch die Story, und ich war begeistert, dass man auf der Bühne jemand anderes werden kann. Oh, ich könnte das als Job machen! I want to do that!» Ganz von ungefähr kam der frühe Entschluss zur Opernlaufbahn aber nicht. «Ich sang auch im Chor der Methodistenkirche und habe das geliebt. Meine Mutter kaufte früh einen Plattenspieler. Seit ich fünf Jahre alt war, habe ich nonstop gehört. Sie wusste, dass ich eine Gabe hatte, und sie hat das unterstützt.»

Die Elfjährige bekam also Gesangsunterricht, mit dreizehn stand Sondra erstmals auf der Bühne, als Zigarettenarbeiterin in Carmen. «Es war ein Provinztheater mit einem shoestring budget, einem Mini-­Etat, aber in dem Moment, als ich auf die Bühne ging, wusste ich, dass ich das tun musste, nicht wollte. Wie ein Läufer, der laufen muss, musste ich singen. Meine Mutter sah das, und so brachte sie mich nach Chicago oder Cincinnati oder Indianapolis, damit ich grösseres Theater erleben konnte. Sie hat so viele Opfer gebracht, um mir meine Karriere zu ermögli­chen…» Gab es einen Plan B? «Nein, ich sprang mit beiden Füssen rein. And failing was no option.» Einmal, gesteht sie, hat sie als Hypothekenmaklerin ihr Geld verdient, «weil ich mitten am Tag das Büro verlassen und zum Gesangsunterricht gehen konnte».

Mit dem Erfolg, dass sie ins Young Artists Program der Metropolitan Opera kam. Sie hatte die Stimme für das riesige Haus, 1996 stand sie erstmals dort auf der Bühne als Gräfin Ceprano in Rigoletto. «Es war sehr schwer. Ich versuchte auf der Bühne ich zu sein, es war anstrengend, die Balance zu finden. Und so erschuf ich ein Alter Ego oder es kam eines Tages zu mir, Sandy Singer. Sie ist furchtlos und stark, auch verletzlich, wenn es sein muss. Sie hat keine Schwächen und ist unbesiegbar. Wirklich eindrucksvoll!» Sie lacht. Ist Sandy Singer immer noch mit ihr unterwegs? «Ja. Auf eine Art ist sie mein Schutz und Schild, das, was ich der Welt von mir zeige, denn mein persönliches Leben ist mein persönliches. Die wahre Sondra ist empfind­licher.»

Diese wahre Sondra bleibt aber keineswegs zuhause, wenn Sandy Singer auf die Bühne geht. Ihr ist sogar einer der grössten Erfolge der Sopranistin zu verdanken, die erwähnte Medea in Luigi Cherubinis gleichnamiger Oper in der New Yorker Met im vorigen Jahr. «Eine Scheidung durchzumachen und Medea zu sein», sagt Sondra, «das war extrem kathartisch. Alle Aggressionen, die ich hatte, die Wut, alle Verletzungen, Schmerzen, all das Üble benutzte ich auf der Bühne für diese Gestalt. Und es war die beste Therapie, die ich mir denken kann, denn auf der Bühne liebte ich all das. I love suffering on stage!»

Sie lacht wieder und fährt nachdenklich fort: «In der Gesellschaft heute sind wir von vielen dieser Emotionen abgeschnitten. In den sozialen Medien wird alles zu­rechtgemacht, um hübsch und glänzend zu wirken. Wenn da jemand sagt, ich habe wirklich einen miesen Tag, guckt sich das keiner an, die Algorithmen klammern das aus. Die Leute gehen verloren im Algorithmus. Was Social Media zeigen, ist nicht die wirkliche Gegenwart. Oper ist jetzt. Bühne, Musik, das ist Gegenwart!» Als aber diese Gegenwart verbannt war, im Lockdown, da riefen Sondra Radvanovsky und ihre Sopranfreundin Keri Alema eine Youtube­-Serie ins Leben, die bis heute 97 Folgen hat. Die Screaming Divas tranken jeden Freitag Gin Tonic vor der Kamera und trafen Kollegen aus aller Welt zum Zoom, und selbst Anthony Tommasini, langjähriger Chefkritiker der New York Times, wagte sich in die virtuelle, von Gelächter erfüllte Höhle der Diven.

Unter den allerersten Gästen war auch Rosa Feola, die nun mit Sondra auf der Probebühne steht. Wer weiss, wie oft sie an diesem Vormittag schon zur Folter geführt wurde…. Ihr «Lieber sterbe ich» verliert nicht an Entschlossenheit. «Was hat dir soviel Kraft ins Herz gebracht?», fragt Turandot. «Principessa, l’amore!» «L’amore…», sagt und singt Sondra Radvanovsky versonnen, verwundert, und lässt eine Haarsträhne der Gefangenen durch ihre Finger gleiten, fast zärtlich.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 103 der Oper Zürich, Juni 2013, und für die Website des Hauses. Turandot hat Premiere am 18. Juni. Die musikalische Leitung hat Marc Albrecht, Sebastian Baumgarten inszeniert. Neben Sondra Radvanovsky (Foto: Andrew Eccles / myscena.org) singen u.a. Rosa Feola (Liu) und Piotr Beczała (Calaf).