Kategorie-Archiv: Oper

Hat die Hexe ausgedient?

Der Kampf ums Kind tobt in den Musiktheatern. Acht neue Opern für die Jüngsten werden allein derzeit uraufgeführt

Es war einmal, da wurden die Kinder in den Wald geführt, wenn sie die hohe Kunst der Oper kennenlernen sollten. Sie vernahmen raunende Klänge eines großen Orchesters, sahen eine singende Frau in kurzer Lederhose, von der es hieß, sie sei der Hänsel, und eine Puppe flog über die Bühne, das sollte die Hexe sein. Alles seltsam und weit weg, aber die Bäume sahen so echt aus! Und während in deutschen Sprechtheatern längst hammerharter Alltag für Kinder zugerüstet wurde, saß in den Opernhäusern der fein gemachte Akademikernachwuchs und lauschte den Gesängen eines märchenhaft versunkenen Prekariats: “Rallalala, rallalala, Hunger ist der beste Koch …”.

So lange ist das gar nicht her. Bis Ende des 20. Jahrhunderts schwang Engelbert Humperdincks Hexe ihren Besen als Zepter im Musiktheater für Kinder. Wer sich heute an Opernhäusern umtut, reibt sich Augen und Ohren. Acht neue Opern für Kinder werden in dieser Spielzeit in Deutschland uraufgeführt, hinzu kommen Dutzende im Repertoire. Allein in Berlin konkurrierten am vergangenen Wochenende das abstrakte Rotkäppchen des Musikdramatikers Georges Aperghis und Gordon Kampes neue Kinderoper Kannst du pfeifen, Johanna? miteinander. Die Scouts der Szene hechten von einer Premiere zur anderen, immer auf der Suche nach neuem, starkem Stoff für Kinder.

“Als ich vor 13 Jahren anfing”, sagt Rainer O. Brinkmann, Theaterpädagoge an der Berliner Staatsoper, “gab es weit und breit nichts, was sich um den Nachwuchs gekümmert hätte. Die Oper war, mit wenigen Ausnahmen, weit zurück hinter den Sprechtheatern, die alle ihre Pädagogen hatten.” Inzwischen gibt es kaum ein Haus, an dem nicht von der Basis bis zum Überbau um das Publikum von morgen gekämpft würde: mit Werken und Workshops, Adaptionen und Novitäten für Kinder und Jugendliche – und voll heftiger Diskussionen darüber, wohin die Reise gehen könnte. Wie komplex dürfen, wie einfach müssen Kinderopern sein? Wie dissonant? Sind Märchenstoffe Weltflucht, brauchen wir Patchworkdramen als Sozialmassage? Sind Arien noch erlaubt? Geht es auch ohne Rap?

Ein ganzes Genre wird neu erfunden, und zwar vor großem Publikum. Die Nachfrage ist enorm. Die Werkstattbühne des Schillertheaters ist voll, wenn Aschenputtel gegeben wird, um 1900 von Ermanno Wolf-Ferrari für Erwachsene komponiert, nun so geschickt auf 70 Minuten, zehn Musiker und acht Sänger reduziert, dass die überreife Spätromantik eine neue, leichte Sinnlichkeit gewinnt. Mit dem ersten gesungenen Ton sinkt der Tuschelpegel gegen null. Auch wenn das hier kein Illusionstheater ist, die Künstler zum Greifen nah sind und Aschenputtel zum Putzen blaue Plastikhandschuhe überzieht, wirkt der alte Zauber sofort. Auch vom Regietheater gestählte Erwachsene sehen sich durch die Inszenierung von Eva-Maria Weiss keineswegs in die Froschperspektive genötigt. Es tut ganz gut, mal eine Musiktheaterstunde ohne Dekonstruktion, Subtext und Psychoanalyse zu verbringen.

Kinder haben viel Sinn für Qualität und Wahrhaftigkeit. Darum wird der Regisseur Frank Hilbrich auf der Probebühne der Stuttgarter Oper nicht müde, im Countertenor Iestyn Morris die Abenteuerlust freizulegen, die ein Peter Pan nun einmal haben muss. Erst recht in einer komplexen Partitur wie der von Richard Ayres, Jahrgang 1965, dessen Oper demnächst im großen Haus uraufgeführt wird. Damit der Sänger fliegen kann, haben Stuntexperten ein Bungeeseil installiert, es geht um Millimeter und Sekunden. Der Aufwand für 90 Minuten inklusive Krokodil steht dem für eine Salome in nichts nach – und ist nur als Koproduktion zu machen. Nach der Komischen Oper Berlin wird das walisische Cardiff die Inszenierung übernehmen.

Seit Hans Werner Henzes legendärem Policcino, bei dem 1980 ein ganzes italienisches Städtchen mitmachte, arbeiten Kinder oft auch bei den Konzepten mit. In Stuttgart fährt man auf beiden Schienen. Parallel zu den Proben für Peter Pan (bei dem sich die Mitwirkung auf den Kinderchor beschränkt) erarbeiten 15 Jugendliche ihr eigenes Nimmerland. Remy ist blind und singt: “Niemand holt mich ab, weil keiner weiß, wo ich bin.” Ein Lied aus fünf Tönen, mal eben improvisiert, sein Freund begleitet ihn auf einer Trommel. Die beiden sind 17, aber auch ein Neunjähriger steht im Probensaal und schlägt am Vibrafon berührende Klänge an zum Thema Einsamkeit.

So erlebt man die Geburt des Musiktheaters jenseits aller Operngeschichte – als unmittelbare, intensive Suche nach Ausdruck. Damit dieser sich gestalten und vermitteln lässt, braucht es einen Schutzraum. Der Jungen Oper Stuttgart steht jährlich ein Etat von 400.000 Euro zur Verfügung (plus Sponsoring) für vier feste Kräfte, 200 Workshops, zwei Neuproduktionen (ohne Peter Pan), für Konzerte und für Stückentwicklungen wie Nimmerland. Niemand lacht Remy hier aus, wenn er von der Einsamkeit singt. Mit ihr, das lässt jeder Ton, jedes Wort spüren, kennen sich diese Kinder bestens aus.

“Kinder werden total unterschätzt”, sagen die, die mit ihnen arbeiten. Am meisten staunten viele Sänger von der Berliner Staatsoper, als sie in den Plattenbaukiez an der Frankfurter Allee fuhren und dort in einem Jugendheim der Caritas 60 junge Akteure trafen, die ihre Partien im Projekt Sternzeit (frei nach Musik von Chabrier) sicher beherrschten, mitentworfen hatten und nun zusammen mit den Profis probten. Dahinter steht die Idee von Regina Lux-Hahn, Kinderoper “da zu machen, wo die Kinder leben”. Die Premiere war 2010 ein solcher Erfolg, dass die Lichtenberger unlängst ihre vierte Produktion herausbrachten – und längst auch erwachsene Fans haben.

“Kinder, die sich in solche Projekte einbringen, entwickeln sich in ungeheurer Weise. Das ist ein Stück Menschwerdung”, sagt Frank Harders. Er betreut beim Verlag Boosey & Hawkes mittlerweile 70 Musiktheaterwerke für junge Leute, darunter Erfolge wie dieSchneekönigin von Pierangelo Valtinoni, derzeit im nordschwedischen Umeå und in Leipzig zu erleben. Dem Werk, ärgert sich Harders, werde seine Ohrwurmhaltigkeit von Hardlinern schon als “obszön” vorgeworfen. Mancher Komponist weiß bald nicht mehr, was die Kritiker wollen – wie Matthias Heeps, in dessen Kinderoper Momo den einen die Melodien fehlten, anderen das Werk zu “melodienselig” war. Kann das sein?

Offenbar bündeln sich in der Diskussion über ein Musiktheater für Kinder genau die Konflikte, die seit der Erfindung der Oper alle 50 Jahre ausbrechen: Komplexität gegen Einfachheit, Zeitnähe gegen Mythos. Wer es allen recht machen will, wie jetzt Gordon Kampe in Kannst du pfeifen, Johanna?, uraufgeführt in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, landet leicht bei einer Mischung aus Alban Berg, Barock und Schlager, in der die Auseinandersetzung mit dem Tod eher einem pädagogischen Wertekatalog folgt als packenden theatralischen Spannungskurven. “Mir ist ein bisschen langweilig”, flüstert, fast mit schlechtem Gewissen, eine Siebenjährige im Publikum ihrer Mutter zu. Der Kampf ums Kind bringt jedenfalls einen Schwung in die Debatte, der dem restlichen Musikbetrieb mit seinem anything goes zwischen Kulinarik und Dekonstruktion derzeit fehlt.

Und er fördert die Suche nach intimen Formen, die zudem Impulse fürs Theater der Großen liefern könnten. Wie Kampe kommt auch Gisbert Näther mit fünf Instrumentalisten aus. Sein Einstünder Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse nach dem antiautoritären Klassiker von Christine Nöstlinger wurde gerade in Gelsenkirchen uraufgeführt. Als Konrad, ein artig abgerichteter Siebenjähriger, agiert ein Schauspieler gleichsam als Fremdling zwischen drei Sängern, die ihm das Frechsein beibringen. Die Bühne ist, wie derzeit fast überall, antiillusionistisch. Hier ein Kühlschrank, da eine frei stehende Tür, und mittendrin sitzen die Musiker, die auch mal selbst eingreifen.

Näther hat das unprätentiös komponiert. Leicht, nicht seicht, deutlich, aber mit nicht zu dicken Ausrufezeichen. Zur Uraufführung kommen die gebildeten Stände nebst Nachwuchs. Dass aber auch Kinder aus Gelsenkirchens türkischen Arbeiterfamilien etwas mit Konrad anfangen können, merkte Regisseurin Ulla Theissen bei der Hauptprobe mit Schulklassen. Die kleine Liebesgeschichte im Stück hätten sie “aufmerksam und mit funkelnden Augen” verfolgt. Längst sind die 30 Vorstellungen im kleinen Saal ausverkauft. Und wer rund um den solitären Bau des Musiktheaters im Revier die Tristesse Gelsenkirchens auf sich wirken lässt, spürt einen Wärmebedarf, den kein Kino stillen kann.

Die ganz große Wärme aber, den Zauber des Orchesterabgrunds und die Geborgenheit regressiv gediegener Harmonien, den Opernwahnsinn von Leuten, die mit großer Stimme Kinder spielen, das gibt es so traulich und treu nach wie vor wohl nur bei Humperdinck, dessen Hänsel und Gretel keineswegs von den Bühnen verschwunden sind. Von Kiel bis Karlsruhe bekämpfen sie die Hexe, die es mittlerweile in allen Extremen gibt: als Showfrau im Glitzerkleid ebenso wie für Knusperhausnostalgiker in einer Regie von 1964. Die Kinder freilich, die das lieben, sind nicht mehr die Jüngsten.

Der Text erschien am 5.12.13 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt

Mitten durch die Eingeweide

Bernd Alois Zimmermanns “Soldaten” erzählen von gefallenen Mädchen und der Brutalität des Krieges. Gleich drei Opernhäuser spielen die 1965 uraufgeführte Oper in dieser Saison: Was macht sie so attraktiv?

Einsam kniet sie da, fragil, verunsichert, der Mann hat leichtes Spiel. Was ihr denn fehle. Da, der Brief, ihr Verlobter hat geschrieben, sie reicht ihm das Blatt, und von da ist es nicht mehr weit zur Entladung der Spannung, die im Orchester knistert, in kleinen Akzenten, im Funkenflug zwischen Intervallsprüngen und flüsterndem Flageolett. Marie will nur spielen, necken, kindlich fast, und der Mann spielt mit ihr, aber anders, zynisch und geil. Zugleich sehen und hören wir hinten den tapsigen Verlobten, der nun gleich gehörnt wird, und seine Mutter und auf der anderen Seite die Großmutter des Mädchens, die singt eine Moritat. Derweil hat sich durch Zwölftonzacken etwas schier Unfassbares genähert.

Während hier der Rock hochrutscht und mit ihm die Hand, dort ein Sohn nicht von der Mutter loskommt, da eine moribunde Alte das Gestell mit dem Tropf schiebt, inmitten atonaler Umgebung, verdichten sich Bläsertöne zum Bachchoral: “Ich bin’s, ich sollte büßen.” Völlig irre. Im Licht dieser alten Harmonien, die sich bald wieder wegdrehen ins Universum, ist nichts gemildert. Wir sehen nur deutlicher, wie diese Menschen in ihren Situationen gefangen sind. Wir sehen es mitleidender. Wir hören die Verzweiflung im Sex und die Einsamkeit der Alten, wir blicken auf die Menschenwelt und erblicken sie für Momente ganz, und es gibt wohl nur eine Oper, in der das so möglich ist, nämlich Zimmermanns Soldaten.

Natürlich kann man das Werk, mit dem Bernd Alois Zimmermann berühmt wurde, auch ganz anders inszenieren. Die Alte mit dem Tropf, die fragile Marie, der ödipale Verlobte, das sind Probeneindrücke aus der jüngsten Inszenierung von Calixto Bieito. Sie hatte jetzt am Zürcher Opernhaus Premiere und wandert von dort weiter an die Komische Oper Berlin. Ebenfalls in dieser Spielzeit entsteht an der Bayerischen Staatsoper eine Produktion mit dem Dirigenten Kirill Petrenko und dem Regisseur Andreas Kriegenburg. Drei Häuser also spielen in einer Saison Die Soldaten. Das gab es seit der Uraufführung 1965 noch nie, kein Wunder: Es ist eines der aufwendigsten und komplexesten Einzelwerke der Operngeschichte.

“Das mit Abstand Schwerste, was ich bisher in den Fingern hatte”, bekennt Marc Albrecht, der die Zürcher Produktion dirigiert und sich durch die Opern Alban Bergs und Arnold Schönbergs immerhin “mit ein paar Wassern gewaschen” fühlt. Wer sich als Besucher ins Wildwasser der Proben stürzt, erlebt einiges von den Herausforderungen, denen sich in einem halben Jahrhundert 17 Teams und noch mehr Häuser gestellt haben, alle großen deutschen Bühnen, einige kleinere, dazu Basel, Wien, Salzburg, London, Paris, New York. Das ist viel. Ein Repertoire-Renner kann ein Werk mit 256 Instrumenten und 17 Solisten schon aus logistischen Gründen nicht werden.

Von den “2597 Taktwechseln” mal ganz abgesehen. So viele sind es gefühlt für Marc Albrecht. Er hat durchaus Verständnis für die Kölner Oper, die das Werk bestellt hatte, es dann aber als “unaufführbar” ablehnte. Erst als Zimmermann seine übereinandergelagerten Zeitschichten mit neuen Taktstrichen etwas spielbarer gemacht hatte und mit Michael Gielen ein unerschrockener (weil selbst komponierender) Dirigent gefunden war, der die skeptischen Musiker in – alles mitgezählt – 565 Proben fit machte, konnte “ein ernst zu nehmender, weit über die meisten heutigen Versuche hinausgehender Beitrag zur Musikbühne” (Die Welt) vors Publikum kommen. Und neben Buhs sogar Bravos ernten.

Die Geschichte ist einfach: Mädchen aus solidem Bürgerhaus wird von intrigantem Baron verführt, fallen gelassen und im Soldatenmilieu nach unten weitergereicht, bis sie Hure ist. “Da haben wir’s. Mit euch verfluchten Arschgesichtern!” So drastisch schrieb 1775 keiner wie Jakob Michael Reinhold Lenz, dessen Soldaten vor allem formal Zukunftsmusik waren: Er entwarf filmschnittartig rasante Szenenwechsel und sprengte die Einheit von Zeit und Ort. Und er beeindruckte Georg Büchner, der im Woyzeck Lenzsche Techniken aufgreift und den Namen Marie. Daraus wiederum machte Alban Berg seine Oper Wozzeck, an die Zimmermann deutlich anknüpft.

Für Zimmermann war das Stück von Lenz ein Großfund. 1918 geboren, hatte er in der Wehrmacht aktiv am Krieg teilgenommen, an West- wie Ostfront. Umso interessanter sein Hinweis, das, was ihn an den Soldaten interessiere, sei, “wie alle Personen unentrinnbar in eine Zwangssituation geraten, unschuldig mehr als schuldig …” Die eigene Erfahrung des Grauens komponierte er nun in einen Text hinein, der weniger den Krieg als den “Soldatenstand” beschreibt, durchaus aber die (Selbst-)Zerstörungskraft der Menschen. “Zeit: gestern, heute und morgen”, steht vorn in der Partitur, sie endet mit der “Wolke des Atompilzes”. Und sie potenziert alles, was Alban Berg vier Jahrzehnte zuvor komponierte.

Zimmermanns Stärke liegt in der Wahrhaftigkeit

Wo dieser 25 Instrumente für die Bühne jenseits des Orchesters braucht, sind es bei Zimmermann 68 Perkussionsgeräte in drei Gruppen plus Jazzcombo, hinzu kommen in der zentralen Kaffeehausszene noch 18 Schauspieler, die zum Sprechgesang verzwickte Rhythmen aufs Geschirr schlagen. Mit einer Engelsgeduld probt Marc Albrecht das, in diesem Fall mit Stahlhelmen und Schlagringen als Klangerzeugern. Und als es halbwegs sitzt, beginnt Calixto Bieito die Szene zu stellen. Was bedrohlich werden soll, wird heiter geprobt. “This is your dick”, sagt er einem jungen Mann in Uniform, der mit seinem Stahlrohr sofort phallisch posiert. Beide lachen. Hier wird nichts befohlen.

Bieitos Interesse an dem Stück begann mit früher Lektüre. “In Spanien haben wir keine Romantik, das ist ein Barockland – in der Korruption merkt man das bis heute. Aber mit der Romantik beginnt die moderne Gesellschaft, also las ich die deutschen Romantiker und Vorromantiker, zu denen Lenz gehört. Seit ich seine Soldaten gelesen habe, wollte ich auch die Oper machen. Ich halte nicht alle für Opfer in diesem Stück. Aber es gibt auch heute Soldaten, die ich für Opfer halte, zum Beispiel die jungen Spanier, die sich in Afghanistan einsetzen lassen, weil sie dort Geld verdienen.” Um Gesellschaftskritik geht es ihm allerdings nichts. Was ihn interessiert, “ist weniger die Brutalität, die Vergewaltigung, sondern die Nahaufnahme der Charaktere. Das muss am Alter liegen.” Bieito, Jahrgang 1963, lächelt, immerhin haftet ihm immer noch der Ruf eines Regieberserkers an, der von Mozart bis Verdi gern Blut und Sperma spritzen lässt. In Zürich geht er anders vor, und Marc Albrecht stimmt ihm zu: “Energie hat das Stück genug, man muss sie eher kanalisieren.” Intim werden diese Soldaten auch deswegen, weil die gigantische Besetzung in ein 1000-Plätze-Haus gepresst wird. Die Musiker sind in einer gewaltigen Stahlkonstruktion auf der Bühne untergebracht, als Spielfläche wird der Orchestergraben überbaut.

Gut möglich, dass in der doppelt so großen Münchner Oper, wo die Soldaten im Mai 2014 Premiere haben werden, ein krasser Gegenentwurf geliefert wird – schon weil Regisseur Andreas Kriegenburg eher zum Körpertheater als zur Individualpsychologie neigt. Wie alle großen Werke vermag auch dieses Tendenzen jeder Zeit zu spiegeln: 1968 wird es in Kassel zwischen Pop-Art und Panzer gezeigt, 1976 lässt Götz Friedrich in Hamburg den überzeitlichen Atem der Geschichte wehen, und Harry Kupfer macht 1987 in Stuttgart zwischen Klassendrama und Komödie das Kaffeehaus zur Gesamtmetapher. 1995 in Dresden psychoanalysiert Willy Decker die Soldaten in einem Kästchen.

Vor sieben Jahren dann ließ David Pountney in Bochum das Publikum in einer Industriehalle auf Podesten an den Musikern entlangfahren, die im Raum verteilt waren. Damit kam er Zimmermanns Traum vom Theater als “Großraumgefüge” am nächsten, in dem alles, auch das Publikum, “mobil” sein sollte. Gewöhnliche Häuser, glaubte er, seien den Soldaten nicht gewachsen. Stattdessen sind sie an diesem Stück gewachsen. Es ist zwar revolutionär, aber immer noch eine Oper. Und auch Zimmermanns Formel von der “Kugelgestalt der Zeit”, oft andächtig beschworen, lässt leicht übersehen, dass es Simultanaktionen und Stilzitate spätestens seit Mozarts Don Giovanni gibt.

Tatsächlich liegt Zimmermanns Stärke wohl in dem, was Marc Albrecht “Wahrhaftigkeit” nennt. Der Dirigent war mit 25 Jahren dabei, als sein Vater die Soldaten in Hannover probte, “das ist mir durch die Eingeweide gegangen”. Er hält sie unter den Opern der letzten 50 Jahre für “das Stück mit dem größten Potenzial, uns emotional so zu berühren, dass es einen wirklich verändert”. Dem Komponisten selbst half das nichts, er nahm sich mit 52 Jahren das Leben. Wenn aber ein paar dürre Töne vom Klavier im kahlen Probenraum, fünf Sänger, ein Tongeflecht und ein Choral genügen, einen zu Tränen zu rühren, muss man sich um die Zukunft dieses Werks keine Sorgen machen.

Der Artikel erschien am 26.9.13 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.

Quadratur einer Passion

Robert Wilson zelebriert Lachenmanns “Mädchen mit den Schwefelhölzern” in Bochum. Aber braucht dieses Werk wirklich eine Bühne?

Fahl geschminkt, im weißen Nachthemd, tappt Angela Winkler durch das Karree. Sie ist das Mädchen, der Tod ist ihr nah, ein Mann in Schwarz. Stumme Rollen. Ihre Bewegungen sind ritualistisch, erstarrend in der Kälte, um die es auch geht im Mädchen mit den Schwefelhölzern. Was allerdings der Komponist Helmut Lachenmann aus dem Märchen gemacht hat, in einem der meistdiskutierten Musiktheaterwerke der Gegenwart, ist fern der Erstarrung. Zwei Stunden lang rauscht, flüstert, funkelt, wütet, lebt diese Partitur in der Jahrhunderthalle Bochum, von allen Seiten hineintönend in einen quadratischen Kessel. Und zwei Stunden lang geschieht auf der Spielfläche das Gegenteil.

Natürlich war schon vor der Premiere der Ruhrtriennale klar, dass Robert Wilson, der 72-jährige Ritualdesigner, keine Individualpsychologie betreiben würde, schon gar nicht mit einem Stück, das keine singenden Protagonisten hat, von dessen Heldin nur erzählt wird, und das auch nur in Textfragmenten. Aber so lähmend, ja zombiehaft ist es auf einer Bühne schon lange nicht mehr zugegangen wie in jenem Geviert, in dem Wilson persönlich als Tod im schwarzen Anzug eine der sensibelsten deutschen Schauspielerinnen zur Passionspuppe in einem fernöstlich abgezirkelten Mysterienspiel macht. So keimfrei wünscht man sich Krankenhäuser, aber nicht das Theater.

Paradoxerweise liegt darin ein Gewinn des Abends: Die Szenen stören nicht beim Hören. Gerade weil Wilson die Empathie, Vielfalt, Gebrochenheit, Spannung dieser Musik säuberlich umgeht, sechzehn Jahre nach ihrer legendären Uraufführung in Hamburg, werden ihre Qualitäten deutlicher – und ihre Grenzen. Zwar ist diese “Musik mit Bildern” jetzt erst zum vierten Mal inszeniert worden, wird aber längst als Schlüsselwerk des Musiktheaters in einer Reihe mit Bergs Wozzeck und Zimmermanns Soldaten gehandelt. Dabei muss man durchaus fragen, ob es sich hier um eine Oper handelt, wie Lachenmann selbst das Werk bezeichnete, oder nicht doch um eine Passionsmusik.

Dass Wilson den singenden Menschen von der Bühne entfernt, entspricht durchaus einer Option der Partitur. Die führt uns tief in Wärmetraum und Kältetod des Mädchens, aber nicht zu Beziehungen zwischen Individuen. Zudem ist aus dem Gesang als unmittelbarer Äußerung die komponierte Kritik daran geworden: für zwei Sopranistinnen, während traditionelle Instrumente (in Bochum das exzellente hr-Sinfonieorchester unter Emilio Pomárico) Klänge erzeugen, für die sie nicht gebaut sind. Es ist ein Wunder dieser Musik, dass aus der Verweigerung ein sternenklares Universum von Geräuschen und Fragmenten wächst. Aber weiter kann man diesen Weg nicht gehen.

Und vielleicht ist diese Partitur sogar weniger Musiktheater als ein Kommentar dazu, der keine Bühne braucht, anders als die großen Opernwerke der jüngsten Jahre, die von traditioneller Klangerzeugung, von verstehbaren Texten erkennbarer Protagonisten ausgehen: Klaus Hubers Schwarzerde von 2001 etwa, antidramatisch, gebrochen, mit atmenden Klangflächen, Aribert Reimanns Medea von 2009, linear, doch von einer psychologischen Vielschichtigkeit ohne Beispiel. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die besonderen Qualitäten dieser Partituren auch eine Antwort auf die Herausforderung des Mädchens sind.

In ihm hört man mittlerweile weniger das “Neue” als das fast schon historisch Gewordene. Die Vertrautheit ist bei Musikern wie Hörern gewachsen. Darum kehrt nun manches, was Lachenmann zu brechen sich vornahm, als Verdrängtes zurück: Kurze, dröhnende Blechbläserpassagen künden von einer tiefen, verbotenen Liebe zur Romantik, manche Entfesselung ist in ihrer Aggressivität schon Heavy Metal. Wie viel Leben diese Partitur durch ihr Reifen gewinnt, wird im Kontrast zur keimfreien Inszenierung ebenso deutlich wie das, was sie mit ihr gemeinsam hat: Die Annäherung an Menschen erlaubt sie nicht.

Wenn das aber bei Wilson mit der Angst vor dem Inneren zu tun hat, ist es bei Lachenmann das Gegenteil: Er überspringt den Prozess der Annäherung. Er umgibt uns mit dem Innenleben einer Schutzlosen. Seine Musik ist vom ersten bis zum letzten Ton, auf Umwegen auch da, wo Leonardo da Vinci und Gudrun Ensslin zitiert werden, mit dem träumenden, frierenden, sterbenden Mädchen identisch, mit dem, was ihm geschieht, was es fühlt und wünscht. Darum nimmt sie einen mit, in jedem Sinne. Und darum wohl ist auch Angela Winkler, ob es dem strengen Bob nun passte oder nicht, immer mehr sie selbst geworden.

Eine kürzere Fassung dieses Textes erschien am 19.9. 13 in der ZEIT unter dem Titel “Zwischen Romantik und Heavy Metal”. Der Text ist urheberrechtlich geschützt.