11. Juni 2020

Mit Mahler im Stau – warum das eines der großen Abenteuer unserer Tage sein kann, ist nachzulesen in der jüngsten Lieferung von Rausch & Räson bei VAN, mittlerweile schon die dreißigste. Andere Wege aus dem „Lockdown“, um ihn herum oder über ihn hinweg werden in den beiden Folgen davor erkundet. In Nummer 29 geht es um Streaming im Jahre 1913, als Marcel Proust Tristan live per Telefon hörte und die Bayreuther Festspiele ganz ohne Not ausfielen, in Nummer 28 um drei Pianist*innen und  ihre Neuveröffentlichungen, die sämtlich den mainstream verfehlen: Schaghajegh Nosrati stürmt mit Charles Valentin Alkan in die Zukunft,  Andreas Staier folgt Beethoven ins Unberechenbare, und Markus Becker braucht überhaupt keine Noten.

An die Qualität solcher Aufnahmen reichen die wenigsten streamings heran. Zwischen Verzweiflungstat und Aufmerksamkeitsökonomie gibt es aber Konzeptionen, die so existentiell wie hochkarätig sind, etwa den ersten Walküren-Akt, den das Theater Koblenz im leeren Haus realisiert hat: Mit drei Klavieren, Schlagzeug, Cello, Dirigent und drei Solisten, darunter Monica Mascus als überragende Sieglinde. Dass die Cellistin die Schwester des Autors dieser Website ist, sei der Transparenz wegen erwähnt. Ach, Familien! Als Herr Svensson, ein südschwedischer Landwirt in den 1940ern, in Stockholm zum ersten Mal eine gewisse Birgit Nilsson auf der Bühne singen hörte, sagte er zu seinem Nachbarn in Parkett: „Klatschen Sie nicht. Das ist doch bloß meine Tochter.“

Neu auf dieser Website: drei weitere Begegnungen mit Künstlern, die für das Magazin der Oper Zürich entstanden. Zur Zeit bleibt auch in Zürich die Bühne leer, doch die früheren Porträts lassen sich nicht einfach nur als Ersatz für die lesen, die jetzt nicht entstehen – die Künstler von 2019 werden ja auch die von 2021 sein. Welch ungeheure Vielfalt von Erfahrungen und Hintergründen, von Charakteren und Biographien sich allein im Bereich der Oper trifft, zeigen drei Künstler, die verschiedener nicht sein könnten:  Die süditalienische Sopranistin Rosa Feola kurz vor ihrem Auftritt als Lucia in Basel, der in Berlin lebende Video-Designer Chris Kondek während einer Probe am Rand von Amsterdam, der norditalienische Dirigent Gianluca Capuano in Brüssel.

Unterdessen drehen die ersten Feuilletonredakteure behagliche Pirouetten auf der Frage, wie „systemrelevant“ die Kunst sei, sein müsse oder sein dürfe. Dass im Zusammenhang mit der Kulturszene überhaupt der Begriff der „Systemrelevanz“ ins Spiel kam, geht aber schlicht auf die unbehagliche und unvermindert aktuelle Frage tausender ausübender Künstler zurück, von was sie die Miete bezahlen sollen. Claude Debussy, als Komponist im Dienst keines einzigen Systems, stand häufig vor ihr und zugleich vor einem bürgerlichen Klischee, das Not und Kreativität gern mal zusammen sieht, aus sicherer Distanz. „Ohne Sie“, schrieb er 1898 dem Verleger, der ihm mit der Miete aushalf, „wäre ich auf die unerfreulichsten Beschäftigungen angewiesen und Pelléas noch in jenen rußigen Gefilden, von denen die Leute zu Unrecht glauben, dass sich das Genie dort verberge.“ Sehr viel scheinen die Leute seitdem nicht kapiert zu haben.